Mir ist schlecht

Von Sophia Sylvester

Mir ist schlecht.

Ich habe Hunger, aber ich will nichts essen: weil mir schlecht ist.
Mein Magen ist extrem konsequent in seiner abwehrenden Haltung der Welt gegenüber.
Selbst der Geruch von Banane bereitet mir Sodbrennen.
Wasser wird für eine kurze Zeit in meinem Körper angesammelt, um bei ausreichender Menge in einem kraftvollen Schwall wieder ausgeworfen zu werden.
Versuchsweise trinke ich eine Weile nichts, wie wird wohl darauf von den Verantwortlichen reagiert werden? Es vergehen nur Minuten, bis ich die Erkenntnis gewinne, dass eine zum Auswurf geeignete pastose Masse, oder sagen wir lieber cremiger Schaum, also dass dieser Grundstoff zum Ziele des Auswurfes auch aus körpereigenen Stoffen wie Galle und Blut rekrutiert werden kann. Dieses Gefühl der Unabhängigkeit erzeugt in mir einen leichten Schwindel. Ich bin nicht bereit für diese Autonomie, trinke Wasser bevor ich diesen Zustand auf seine Nachhaltigkeit hin überprüfen kann.

Ich begebe mich zurück in den regen Austausch in meinem Inneren: Das heitere Frage – Antwortspiel entspinnt sich wieder. Ich lausche eine Weile fasziniert: Anscheinend steht Aussage gegen Aussage. Aber jetzt wendet sich das Blatt, die Magensäfte arbeiten bei der Polizei und werden von der Staatsanwaltschaft bevorzugt! Alles was ich versucht habe an Input zu geben wird als nichtig betrachtet und umgehend in besagtem Schwall entsorgt.

Ich werde nachdenklich: kann ich mich an einen Fall erinnern, bei dem Polizeibeamte für Körperverletzung zur Verantwortung gezogen wurden? So ein Verfahren müsste in diesem System doch theoretisch möglich sein. Mein Herkunftsland erstrahlt plötzlich in diesem seltsam matten Glanz der Rechtsstaatlichkeit, auch wenn mir einfach kein Verfahren einfallen will, das gegen Polizeibeamte gewonnen wurde. Vielleicht ist dieser Wohnort gar nicht so schlecht-
Halluziniere ich? Ich erlebe eine körperliche Grenzerfahrung, ohne Nahrungsaufnahme, obwohl ich vom System her theoretisch in der Lage wäre, Nahrung aufzunehmen.
Die Qualität meiner Körpergrenzen ist momentan, vorsichtig ausgedrückt- einseitig. Alles von „Außen“ eintreffende wird strikt abgelehnt. Gleichzeitig wird das vermeintlich Innere meines Körpers großzügigst in der Welt verteilt. In dem ich also wieder „Welt“ werde, erreiche ich einen leicht transzendenten Zustand, wo höre ich auf? Das Konzept von Außen und Innen stellt sich mir grundsätzlich in Frage und damit auch das dazugehörige Grenzmanagement.
So kann ich doch auf die Dauer unmöglich existieren.
Konsequenter Weise muss das Konzept von Außen und Innen mit dazugehörigem Grenzmanagement grundsätzlich aufgelöst werden. Vernichtet. Abgeschafft.
Weil mir schlecht ist.

Sophia Sylvester

ist queere*r, weiße*r OffKulturschaffende*r, Ausstatter* für Schauspieltheater, Perfomancekünstler* und Autorin*, lebt in Hamburg und arbeitet am liebsten vor dem Bauwagen.

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