Astgabel

Ganz außen an den kleinsten Knospen sind sie zuerst sichtbar in diesem Jahr. Aus der Sehnsucht nach Menschen, die im Schatten unter dem Blätterdach lärmend an Strohhalmen saugen und ihr Besteck in wunderlichen Choreografien zwischen Essen und Mund hin und her bewegen, bilden die Bäume in diesem Jahr statt Blättern Astgabeln aus. Fein und silbern glänzend schieben sie sich langsam aus dem trockenen Holz und lassen das Entzücken der vorbeigehenden Spaziergänger schnell in Entsetzten umschlagen. Über und über bedeckt stehen die riesigen Kastanien nun paillettenartig glitzernd da. Wie übergroße technische Fehlerfindungen. Nutzlos mutiert als mahnende Erinnerung an freudige Restaurantbesuche wandeln sie alles Erstaunen über eine solche Finesse der Natur in tiefe Traurigkeit. Auch wenn man mit diesen feinen Gewächsen sogar die selbst gekochte Pasta mühelos mit dem richtige Dreh aus dem Handgelenk in zauberhaft gewickelte kleine Nester verwandeln könnte. Bei deren Anblick man noch kurz zögert, ob man sich die sahnigen Nudelfäden in den Mund schieben, oder sie auf den Baum setzten mag, um dem dort balzenden Vogelpaar ein gemachtes Nest zu bieten. Wartend bis in ein zwei Monaten aus den nicht zu Carbonara geschlagenen Vogeleiern vielleicht auch wundersam verändertes Federvieh schlüpfen würde.

Sabine Hilscher

studierte bildenden Kunst und Kostümbild an der Udk Berlin. Mit einem bildhauerischen Zugang experimentiert sie mit ungewöhnlichen Materialien und Formen an Installationen/Bühnenräumen und Kostümen, arbeitet mit Collagen, Zeichnungen und Texten. Schwerpunkte Ihrer theatralen Arbeit sind vor allem Musiktheater(Ur-)aufführungen mit dem Regisseur Matthias Rebstock, sowie die Arbeit an der Grenze von Bildender Kunst/Installation und Theater. Sie sucht beharrlich nach Vernetzungen in der Künsten, zwischen Grafik, Zeichnung und Projektionen, zwischen Musik und Bewegung, Bildender Kunst und Prosatexten. Seit 2021 ist sie Stipendiatin des Landes Berlin für neue deutsche Literatur.

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