Die Zunge (von karen bo)
In der S-Bahn steht die Luft. Für einen Nachmittag Mitte April ist es unfassbar heiß. Der Wagen, dessen milchige Scheiben kaum einen Blick auf die draußen vorbeiziehenden Straßenschluchten zulassen, ist vollgestellt mit Menschen. Sie wischen mit halb geschlossenen Augen auf ihren Telefonen herum oder glotzen wie ausgestopfte Tiere vor sich hin, viel zu ermattet für alles Andere. Wenn die Bahn an einer Station hält, öffnen sich die Türen mit einem langanhaltenden Pffff. Für einen kurzen Moment straffen sich die Körper der Reisenden dem minimalen Lufthauch entgegen. Wenn die Türen sich schließen, sacken sie wieder in sich zusammen. Pffffffffffffff.
Eben am Hauptbahnhof hat sich ein neuer Schwall Fahrgäste ins Abteil gedrückt. Einem rotgesichtigen Ehepaar spannen die T-Shirts über den runden Bäuchen. Dem quengelnden Kleinkind im Buggy hängt ein Rotzfaden stumm am Kinn. Ein schlaksiger Junge mit tropfnassen Haaren und offenem Flatterhemd taucht seine Nase in einen riesigen Döner.
Olga versucht, nur durch den Mund zu atmen. Sie senkt den Blick zu ihren fest in den Boden gestemmten Füßen, so fest, dass die Gummisohlen ihrer Sandalen in der Bierlache festkleben, die sich in grauen Schlieren ins Abteil ausbreitet. Als die S-Bahn das nächste Mal hält, wird Olga von den hereindrängenden Menschen noch näher an die Haltestange gepresst. Direkt neben ihr schmiegt sich eine junge Frau an ihren Freund im Muskelshirt, dem sie mit gespitzten Lipglosslippen am Ohrläppchen knabbert. Die junge Frau wirft immer wieder den Kopf in den Nacken, wobei ihre taillenlangen Haare jedes Mal Olgas Unterarm streifen.
So unauffällig wie möglich schiebt Olga ihre Hand an der Haltestange hinauf, Millimeter für Millimeter. Dabei kann sie nicht verhindern, dass der Stoff ihrer ärmellosen weißen Bluse ins Rutschen gerät und Stück für Stück ihre Achselhöhle freigibt.
Der weiße Stoff rutscht ganz allmählich auf ihre Schulter herunter, wie auch alles andere mit den Jahren ins Rutschen geraten war. Die Augen- und die Mundwinkel, das Kinn, das Fleisch an den Knien, alles strebt dem Boden entgegen. Und Olga war ihnen widerstandslos gefolgt, war mit den Jahren immer weiter in sich selbst hineingerutscht. Es war ganz leicht gewesen, selbstverständlich, mühelos. Sollte es je eine Angst gegeben haben, dort unten in sich allein zu sein, so hatte sie diese längst an der Oberfläche gelassen, vergessen wie einen Regenschirm im Bus. Sie blieb von ihr unberührt wie ein alter, dicker Karpfen am Grunde seines Teiches, in den selbst die scharfen Strahlen einer sengenden Nachmittagssonne nicht vordringen.
Heute aber war sie ihnen nicht ganz entkommen. Die flirrende Hitze hatte ihr die Arbeit deutlich anstrengender als gewöhnlich werden lassen. Olga hatte Mühe gehabt, die vielen verrunzelten Rücken zu heben, zu waschen und zu cremen und dabei die knochige Hand des Alten auf ihrem Hintern im Kittel zu dulden, die wegzuscheuchen so vergeblich war wie das Vertreiben einer lästigen Fliege.
Die dürren Finger ihres Mannes verhielten sich nun schon seit zwei Jahren genauso. Sie hatte ihm und seinem stufenverstellbaren Bett das gemeinsame Schlafzimmer überlassen, denn sein Atemgerät gab nachts ein rhythmisch blasendes Geräusch von sich, das sie kaum schlafen ließ. Sie selbst war ins Nebenzimmer ausgewichen, das ursprünglich als Kinderzimmer geplant gewesen war und in dem dann stattdessen das Trimmdichrad und die Nähmaschine untergebracht wurden. Als letzter Pflegefall des Tages wartete dieser schwere, mitleiderregende Leib auch heute Abend auf ihre Dienste, in die er sich umstandslos hatte hineingleiten lassen wie ein strandender Wal.
Olga presst ihre feuchte, immer noch hoch über den Kopf erhobene Hand an die Haltestange, schließt sie zur Faust. Vorletzte Woche, an einem der letzten kühleren Tage, an denen der Himmel noch nicht zu dieser dunstig verhangenen Glocke verkommen war, hatte sie, für sich selbst unerwartet, den Besuch bei ihrer Mutter abgekürzt und den Weg hinterm Friedhof entlang genommen, zum See. Nackt und barfuß war sie ins Wasser gelaufen, das sie umhüllt hatte wie ein flaschengrünes, kühles Tuch und beim Auftauchen, beim Weg zurück über die runden, blanken Kiesel, hatte ihre Haut an den Fußsohlen geprickelt wie von kleinen, feinen Nadelstichen.
In diesem Moment meint Olga, hinter ihren geschlossenen Augenlidern zu spüren, wie jemand direkt vor ihr steht. Ein junger Mensch, er muss an einer der letzten Stationen zugestiegen sein. Sein halblanges, weißblond gefärbtes Haar hängt ihm in Strähnen ins Gesicht, seine rötlichen Wangen sind von hellem Flaum bedeckt. Dieses Wesen steht so nah vor ihr, dass Olga jede einzelne seiner rotblonden Wimpern zählen kann. Es sieht sie an, aus großen, grauen Pupillen. Und Olga spürt, wie eine Hitzewelle in ihr aufsteigt, sie kommt von ganz unten, von den Fußsohlen, von den Knöcheln her, sie strömt ihre Beine hinauf, den Bauch, den Nacken, bis unter die Schädeldecke, sie lässt sich nicht aufhalten und ungläubig sieht sie, sehen sie beide, wie eine große, runde Schweißperle die Haltestange hinunterrollt. Da, ungeachtet der Enge im Wagen und der sie umgebenden Menschen, geht der junge Mensch vor ihr in die Knie, den Blick unverwandt zu Olga hinauf gereckt. Sie nimmt sein Gesicht in beide Hände und dann schiebt sich seine Zungenspitze zwischen seinen leicht geöffneten Lippen hervor und fängt Olgas Schweißtropfen auf wie ein sehr kleines, rosafarbenes Tablett.
Die Bahn hält jetzt mit einem schleifenden Geräusch, die Türen machen ihr gedehntes Pfffffffff. Olga öffnet die Augen. Aus der abgestandenen Luft tritt sie hinaus auf einen unbekannten, menschenleeren Bahnsteig. Und atmet ein.