Behindert von gestern

Von Kristine Ringe

Irgendwann hat sich der Homo Oeconomicus gekonnt ausgerottet. Das konnte der echt gut. Und was blieb? Wir. Die Verdrängten, die Aussätzigen, die Behinderten. Nicht im beleidigenden Sinne. Wir sind es einfach. Oder eher waren. Behindert von der Gesellschaft. Sie wollte immer höher, weiter, schneller, einfach, damit sie schließlich tiefer fallen konnten. Warum sollte ich auf einen Wolkenkratzer klettern, wenn der Ausblick scheiße nebelig und die Luft dünn ist? Auch noch während sie unten voller Leben dampft. Wo Gerüche nach Liebe und Hot Dogs von Goerge an der Ecke West Bridge Lane stehen, was im Prinzip dieselben sind. George, sowieso bester Mann. Er packt immer extra Zwiebeln auf meinen Hot Dog, aber unter die röstaromig routierte Wurst, damit die anderen Kund:innen nichts davon mitbekommen, dass es nicht nur Extra-Würste, sondern auch Extra-Zwiebeln gab. Für manche. Ich glaube, es hat nichts mit meinen Beinen zu tun. Die bringen mich zwar ab und zu um den Verstand, aber sonst nirgends mehr hin und schon gar nicht zu gratis Zwiebeln. Ich bin einfach ein netter Typ. Zum Zusammenbrechen witzig, wiederbeatmungsnotwendig gutaussehend, bescheiden, so einer eben.

Meine Mutter wollte, dass wir es irgendwann mal besser haben als sie, also zogen wir in eine extrem schöne Siedlung, mit extrem schönen Vorgärten, noch extrem schöneren Pools in jedem zweiten Garten und besonders schönhaftigen Pestizid-Verwehungen vom angrenzenden Monsanto Getreidefeld. Diese extrem schöne Zeit im Bauch meiner Mutter, die nicht genug von der frischen Dorfluft bekommen konnte, führte dazu, dass meine Beine nie eine Form bekamen, die meinen restlichen Körper hätte tragen können. Höher, weiter, schneller wurde mir also nicht in die Wiege gelegt. Der Ertrag der Felder hingegen entsprach genau dem neoliberalen Mantra, das sich jede:r Abgeordnete aus diesem politischen Gefilde nur zu gerne in die Innenseite der rechten Arschbacke tätowiert. Einfach, weil es ihn daran erinnert, was für ein Pain in the ass er für die Arbeiter:innen seiner Zeit ist. War. Zum Glück sind wir davon weg.

Hippie-Veteran George versteckte gerade wieder meine Zwiebeln, als ich daran zurückdenke. Wenn ich mich heute so umschaue, sehe ich keine halbgaren neoliberalen Würstchen mehr – nur die vom Hot Dog Stand. Wer hätte es gedacht, dass hier, wo ich rolle, auf dieser Straße, alles passierte. Der große Banken Crash von 2029. Keine legendäre Wall Street Geschichte. Wir sind hier schließlich in West Bridge, einer Kleinstadt im Norden der USA, wo sich am 29. Oktober 2029 eine Raketendrohne der Marine auf ihrem Weg nach Russland verirrte und in die Oil Bank of West Bridge krachte – ein riesiges Öldepot, das unsere Stadt jahrelang vor dem finanziellen Untergang bewahrte. An diesem Tag aber nicht mehr vor dem ökologischen. Es war der bekannte Anfang vom bekannten Ende. Alle Investor:innen, Arbeiter:innen und Politiker:innen wollten natürlich die Oil Bank retten. Vergaßen darüber hinaus aber, dass es wichtiger gewesen wäre sich selbst zu retten. Die Menschen. Ich war an diesem Tag auf einem Schulausflug in den Bergen. Damals war man der Meinung Natur wäre gut für „besondere Kinder mit besonderen Bedürfnissen“. War sie auch. Nur eben nicht, wenn man mit einem Rollstuhl durch den Wald fahren sollte. Auch wenn ich es hasste, war ich echt glücklich über das Moos an meinen Reifen, nachdem die Stadt an diesem Tag zur No-no-Zone erklärt wurde. No entry, no exit. Alle standen unter Quarantäne. Immerhin standen sie so für irgendwas am Ende ihres Lebens. So erging es nach diesem Crash vielen Orten auf der Welt. Es war wie ein banaler, winziger Startschuss zum Rennen gegen die Zeit, den witziger Weise alle verloren, die sich zuvor unbehindert an der Umwelt vergingen. Und wir, wir blieben. Wir, die nicht mitmachen durften. Ausgeschlossen und vergessen, weil irgendwie unangenehm. Heute möchte ich sagen: Danke. Das hat mir den untätowierten Arsch gerettet.

Kristine Ringe

Der baltische Exportschlager Kristine Ringe lebte die ersten fünf Jahre ihres Lebens in Lettland und migrierte 1999 mit ihrer Mutter nach Deutschland, wo sie heute in der Nähe von Schwerin wohnt. Sie brach erfolgreich ihr Philosophie Studium ab, landete in der Werbebranche, textete sich durch BMW- und Montblanc-Etats, folgte doch ihrer Leidenschaft für die Soziologie und arbeitet heute als freie Texterin, feministische Aktivistin beim Kollektiv “Lebefrauu” sowie antifaschistische Genossin und Gründerin von “Alpakas gegen Nazis”.

Webseite