Familientreffen

Von Maxie Grabo

Familientreffen

Er parkt rückwärts ein. Er kurbelt am Lenkrad als ob er einen Tunnel durch ein Gebirge bohren will. Die Kiefer malmen. Die Handbremse knirscht. Das Auto ruckt und steht. Er fährt die Scheiben hoch, öffnet die Tür und spuckt aus. Er zündet sich eine Zigarette an, schiebt sich raus und wirft die Tür zu. Er drückt auf den Autoschlüssel. Mit einem Klick schließen die Türen.
Auftritt Aggrobo: Aaarrrggh. Rrrrrrrrrrr. Aaarrrggh. Chchchchchch
(kratziger Laut aus der unteren Kehle kommend).

Zwei Autos weiter schwingt sich eine Frau aus ihrem panzerähnlichen Gefährt. Mit einem Stiefel bleibt sie hängen und flucht. Sie kann ihn befreien und zieht sich hoch. Sie schüttelt die langen Haare aus, die auf ihre Schultern peitschen. Sie schnaubt aus.
Auftritt Furia: Arrrggg. Neee. Neee. Tststststststststs.

Mit kurzen, wippenden Schritten und einem festgestellten Lächeln kommt eine weitere, eine ältere, Frau auf die Beiden zu.
Auftritt Bonnie Moodie: Jaaaaa, wie schön! Oooooh, gut seht ihr aus! Jaaaaa! Hattet ihr eine gute Fahrt? Mmmh. Kommt rein und macht euch frisch.

Furia: Arrrggg. Neee. Rrrrrrotz.
Aggrobo: Hä. Spotz. Grrrh. Aaarrrggh.

Sand spritzt hoch und mit einer Vollbremsung kommt ein weiteres Auto vor ihnen zu stehen. Eine Scheibe öffnet sich und ein Grunzen dringt heraus.
Auftritt Wüte_rich: Heeehe. Naaarg. Wo soll ich hin? Alles voll. Heeehe. Mmmpff.

Bonnie Mooddie: Hallo, hallo, schön, dass du kommen konntest. Jaaaaa. Neee. Die anderen sind schon alle da. Jaaaaa. Schön, nicht. Jaaaaa. Ich freue mich so. Jaaaaa.

Furia und Aggrobo gehen vor zum Hauseingang.
Der Eingang ist nicht weiter der Rede wert und auch das Haus ist schlicht. Kastenförmig steht es auf einem Hügel und überblickt die Kleinstadt zu seinen Füßen. Wie jedes Jahr quartieren sie sich hier ein, zu ihrem Familientreffen. Die Familie kommt von hier, nicht von hier oben, vom Hügel, aber von unten, von den Sandpisten und den buckligen Asphaltrinnen, die noch immer die Häuser verbinden. Über die Jahre zogen sie in andere Städte, kleinere und größere, laute und donnernde oder zähe und stille.
Mitgenommen haben sie ihre Wut, in den Umzugskartons, in den Kleiderfalten und in ihren abfälligen Blicken auf die neuen Orte, an die sie zogen.
Nun treffen sie wieder aufeinander. Das große Wüten konnte beginnen.

Im Saal des Hotels sitzen schon die meisten Familienmitglieder beisammen. Da, an der Stirnseite thront die graue Eminenz ihres Clans. Die Haare lila getönt und hochgeföhnt, die Nägel spitz gefeilt und in einem jugendlich wirkenden Stoffschlauch mit Rüsche eingehüllt, blickt Bitterella auf ihre Verwandtschaft. Unnahbar und unantastbar.
Ihr gegenüber, an der zweiten Stirnseite, sitzt einer ihrer Brüder.
Henry Klein-Moser steckt in seinem Anzug fest, seine Fülle drückt an die Nähte, seine Nase leuchtet rot und glänzt speckig. Mit seiner Stimme stopft er laut den Saal zu. Wie jedes Jahr tischt er die alten Kalauer auf, das Wut die Luft reinige oder in der Sauna austrockne. Kalendersprüche, mit denen er seinen Anverwandten die Weisheit der Welt darbieten will. Die Alten kennen sie, können mitsprechen und nicken unverbindlich.
Sie sagen: ja, ja, so war es, so ist es und so muss es sein. Oder eben gar nichts. Die Jüngeren lauschen ihnen als Geschichten einer alten Welt. Geschichten, die heute neu erzählt werden wollen.

Gerade die Enkel Amok und Destru*ina verstehen sich als Hundertprozentige, die das Familiengeschäft wieder voranbringen wollen, die 24 Stunden am Tag ohne Unterlass wüten, beben und kaputtschlagen, was ihre Kräfte hergeben. Noch werden sie ein wenig belächelt und ihre Unerbittlichkeit mit ihrer Jugend entschuldigt.
Neben Henry Klein-Moser sitzt ein weiterer Bruder von Bitterella. Der abtrünnige Michel. Still und schnell zu übersehen, nimmt er nur den halben Stuhl in Anspruch. Mit gehetztem Blick folgt er den spritzenden Wortfetzen und triefenden Anschuldigungen, die durch den Saal schiessen und treffen, ohne sich einzumischen. Michel duckt sich unter, lässt abprallen und vorbeiziehen. Heute wie die Jahre davor.

Alle anderen erhitzen sich, zürnen, schimpfen, streiten, klären, fordern und schäumen. Sie laufen sich warm und zur Hochform auf. Sie proben den freien Lauf.
Noch liegt ihre Wut ein wenig an der Leine. Noch kommen ihnen die Tiraden ungelenk über die Lippen und auch das Brüllen, das Jähzornige und das Nörgelige wollen noch geschliffen und zum Leuchten gebracht werden.

Schrille Stimme der Mimi Maun: Niiniinniii. Dieses Jahr nicht.
Niiniiniii, ich mir nicht bieten. Niiniiniii. Immer ihr mir. Niiniiniii.

Beleidigte Stimme von Henry Klein-Moser: Neeeee. Nooooo. Mit uns können sie es machen. Neeeee. Nooooo. Neeeee. Die glauben, dass sie uns. Neeeee. Nooooo. Neeeee. Nun reichts. Neeeee. Neeeee.

Furia und Aggrobo setzten sich an die Tafel, muffeln ihre Sitznachbar*innen an und machen ihre Zungen mit einem Gläschen voll prickelndem Alkohol beweglich.
Auch die anderen haben zur Lockerung und Dehnung der Stimmbänder die unterschiedlichsten Getränke vor sich stehen, die perlen, dickflüssig von einer Glaswand zur anderen schwappen oder aus Flaschen zischen und ein rauschendes, ja grenzenloses, Wüten versprechen.
Viele Nasen röten sich, Wangen schwellen an und auch die Tropfen, die beim Wüten herausfallen, fliegen schneller und werden dicker.

Bonnie Moodie und Wüter_rich kommen als Letzte herein.
Wüte_rich steigt schon mit einem Grünstich im Gesicht in den Ring der Familie.
Bonnie Moodie grinst mit festgesteckten Mundwinkeln in die Runde und lässt die Fingerknöchel knacken.
Wüte_rich ist schon in seinen ersten Disput eingestiegen und verweigert die zugewiesene Sitzgelegenheit – den letzten Stuhl im Saal.
Er ist ihm nicht genehm. Zu hart, zu niedrig und überhaupt.
Er will auch auf der Fensterseite sitzen, in der Nähe der Grande Dame Bitterella.
Seine nächsten Anverwandten nehmen dankbar die Gelegenheit auf, um ihrerseits heiße Luft und giftigen Schaum auszublasen. Ihre Stimmen erheben sich, werden lauter, einige überschlagen sich, andere können vor Wut kaum noch einen Satz beenden. In Grüppchen gehen sie aufeinander los. Zwischendurch werden die heiseren Stimmbänder und qualmenden Köpfe mit frischen Getränken gekühlt. Einzig Michel sitzt auf seinem Stuhl und schaut mit flackerndem Blick im Saal herum.

Aggrobo: AAarrrggh. Aaarrrggh. Chchchchchch. Aarrrggh.
Henry Klein-Moser: Neeeee. Nooooo. Neeeee.
Mimi Maun: Nie und nimmer. Niiniinii. Niiniiniii.
Bonnie Moodie: Naaanaaanaaa. Jaaaaa.
Furia: Arrrgg. Arrrgg.
Amok: Brrrr. Zosch. Brrrr. Bumm.
Furia: Tstststststststststs. Tstststststststs.
Zorn S. Rot: Uuurrg. Uuurrg. Hmpf.
Destru*ina: Naaaa. Wosch. Weg.
Mimi Maun: Niiniiniii. Niiniiniii.
Leba Worst: Buhu. Buhu. Buuuh.
Bitterella: Nrrrgg. Nerv. Nrrrgg.
Aggrobo: Aaarrrggh. Chchchchch.
Wüter_ich: Heehe. Naaarg. Mmpf.
Henry Klein Moser: Neeeee. Nooooo. Neeeee. Wir zeigen denen. Neeeee. Nee.
Michel: Ruhe. Aufhören. Ruhe jetzt.

Michel sitzt kerzengerade auf der vorderen Stuhlkante, die Hände auf die Ohren gepresst und rote Flecken am Hals.

Henry Klein-Moser: Der Michel, der Michel. Neeeee. Nooooo.
Alle drehen sich zu Michel hin. Der ist mittlerweile bleich und schnappt nach Luft, die Hände halten sich an den Ohren fest. Seine Augen verdrehen sich. Langsam gleitet er vom Stuhl und schlägt auf dem Boden auf.
Jetzt schauen alle auf ihn.

Mimi Maun: Niiniinii.
Henry Klein-Moser. Auch noch. Neeeee. Nooooo.

Furia ruft einen Krankenwagen. Alle anderen schauen weiter. Langsam nehmen sie wieder ihre Streitgespräche auf. War es nötig den Krankenwagen zu rufen? Er hat ja nur simuliert. Das wär auch so wieder geworden. Zorn S. Rot hat doch mal eine Ausbildung gemacht, irgendwas im medizinischen Bereich.

Der Krankenwagen kommt und nimmt Michel mit.

Kurz schauen ihm alle noch hinterher und dann wüten sie weiter. Einig sind sie sich, dass Michel wohl doch zur Familie gehöre. Die eine oder der andere hätte über die Jahre schon gezweifelt, ob er auch wirklich zu ihnen gehöre.
Und mit ein bisschen Übung könne aus ihm doch noch ein passables Familienmitglied werden.
Sie stoßen mit einem letzten Glas auf Michel an und die ersten verabschieden sich. Streitgespräche seien zu führen, das Küchengeschirr aus dem Fenster zu werfen, Fotos zu zerreissen und die Nägel der Daumen abzubeißen, so dass sie jetzt los müssen, in ihre Orte, die lauten, die donnernden, die kleinen, die großen, die zähen und die stillen.
Bonnie Moodie: Bis nächstes Jahr. Jaaaaa. Jaaaaa.
Bitterella: Mmppff.

  1. August 2020, Maxie Grabo