Ich suche mir Zukunft

Von Wolfgang Fortmüller

Ich suche mir Zukunft.

Aus.

Nicht zu viel Zukunft. Die ersten ein bis drei Jahrzehnte nach den Jahren von Null auf jetzt.
Ich nehme mir nur die halbe, oder sagen wir meinetwegen die ersten beiden Drittel meiner Zukunft (unter der Voraussetzung eines langen Lebens). In diesen Tagen, Jahren, kann alles passieren. Ich denke, bis ich reich bin, ein wenig weiter. Dann, die besten Jahre. Immer danach, schliesslich muss man für die letzten zwei Drittel Schwung bewahren.
Aufschwung, Motivation. Aufbruch, nie: Zusammenbruch.
Meine Grossmutter besuche ich ganz selten.

»Hallo Oma, wie geht’s dir? «

Wäre ich zu ihr gekommen, öfter, wäre ich auch dabei gewesen. Im selben Raum, wenn sie ihn ansieht in der Art wie man schaut, ohne gänzlich zu sehen. Wäre ich da gewesen hätte ich gehört, wie sie liest. Allerheiligenausgabe, Pfarrblatt, Tischplatte, Titelseite.
Wie sie liest und sagt und sagt und liest, in fünfzehnfacher Wiederholung. Und ihn zwischen ansieht nach dem sie gelesen hat. Jedes Mal wieder beugt sie den nach kurzem Starren auf die unbekannten bekannten Zeilen hinunter. Die mechanische, lederne Aufziehpuppe liest

»Was kommt nach dem Tod? «

und kommentiert in sein Gesicht, fragend

»Ich weiss es nicht, weisst du‘s? «

Meistens nur mehr so und das Geschrei natürlich. Doch manchmal eine ganz kurze Konversation in tauber Manier, wie schon seit fünfundzwanzig Jahren gefühlt. Immer mit der in Leinöl getränkten Watte in den Ohren.
Das Geschrei ist nicht kräftig, aber bestimmt. In der Dunklen Kammer zu Mittag, im von der Pflegerin zum Mittagsschlaf gebrachten Raum, spricht sie in waches Dunkel. Ich weiss nicht, ob sie einen Mittagsschlaf braucht. Mittagsschlaf ist Mittagspause für die Pflegerin, zwei Stunden, aber auch das weiss ich nicht so genau. Man hört immer das gleiche, man geht hinein und ich weiss nicht genau, was man dann hört, aber wenn man hinausgeht, hört man wieder das gleiche. Sie möchte das du kommst, aber das verwechselt sie wohl etwas.

Oma lebt noch und redet und

»Mama bitte kommen. «

Zukunft bitte kommen.

Taxi bitte kommen.

Tod bitte kommen.

redet manchmal, wenn sie geht, mit dem Gehbock und der Pflegerin am Ärmel, armzitternde kurze Runden. Zählt bis hundert und beginnt bei zweiundneunzig.

In der Dystopie bin ich schon angekommen, aber das ist halt das Leben. Omas gibt’s genug und Probleme auch.
Utopie wäre es, wenn sie in einer Ecke ihres abgenützten Gehirns eine unerwartet Zuflucht auftun könnte. Ein Tor in die Welt sozusagen, rauss aus den Schatten.

Gebt ihr halt einen Chip oder sonst was, Musk bitte kommen.

Wolfgang Fortmüller

geb. 01.03.1996 in Graz, seit 2019 ernsthafte Schreibversuche, in 2021 und 2022 je eine Selbstpublikation über story.one publishing und 2022 Teilnahme an einer Romanwerkstatt mit Robert Schindel, organisiert von der Schreibwerkstatt Waldviertel. Schreiben, (zu wenig) schreiben, (noch immer viel zu wenig) schreiben.

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