Jeans abgeschnitten, Stein – Fundstück, Textausdruck gefaltet in der Hosentasche

Von Dana Shirley Schällert

Über Welten im Stein eines Daumens, der nicht meiner ist

Es sind die Dinge, die zu keinem Zweck geschaffen, nicht auf den Menschen hin entworfen worden sind. Diese Dinge, die erklären könnten, was Sein in der Welt eigentlich bedeutet, wie vielfach es ist, die Leben wortlos tief in sich verschließen. Wenn sie denn sprächen, dann könnten sie’s erklären. Wenn sie eine Sprache hätten, was ihnen nicht entspräche, weil es schlicht der Welt nicht entspricht, zu sprechen. Wenn sie denn wären, was sie nicht sind. Menschen.


ZWenn. Ich in meine Tasche greife, dann find ich eins dieser Dinge. Mir ist damals bereits im Vollzug des Findens bewusst gewesen, dass es aus derlei Stoff war. Sie zu kaufen ist unmöglich. Findlinge sind sie. Hast du schon einmal einen gefunden? Du hebst ihn auf, diesen Findling, denkst in diesem Moment bereits, dass es unmöglich ist, dass die vielen abertausend Menschen, die an ihm vorbeigegangen sind, seine Einzigartigkeit anscheinend nicht bemerkt haben. So unmöglich wie deine eigene Existenz, deren So-Sein du oft vergisst. Du weißt, dass er eine Vergangenheit hat, der Findling, vor allem aber, dass er eine Zukunft haben wird. Und dass es irgendwie teilweise deine sein wird, die du später als Vergangenheit in deinen schwach gewordenen Händen halten wirst. Das weißt du, indem du es ahnst. Ganz dunkel. Mehr ist dir nicht gegeben. Denn du bist nur ein Mensch. Und das ist ein Zustand, dein eigentlich wahrster Zustand, dieses Ahnen, den du so oft in deinem Leben überspringst, von dem du vergessen hast, dass er eine Möglichkeit deines Seins darstellt, den Sinn der Möglichkeit selbst, deinen Möglichkeitssinn. Du hebst ihn auf, du fühlst dich vage und klar und bestaunst ihn. Du weißt sofort, wie er heißt, was er ist. Doch liegt das nicht daran, dass er zweifelsfrei einer bestimmten Kategorie von Dingen zuzuordnen wäre, deren Merkmale dir von Kindesbeinen an geläufig sind – gerade das Gegenteil ist der Fall. Er ist ein Ding, das sich quer über die Kategorien legt, kein Ding des Verstandes, ein Ding der Einbildungskraft ist er, er fordert dich in all dem, was dich zu mehr macht als zu einem Algorithmus, in all deinen vergessenen Fähigkeiten nämlich, er macht dich zum Menschen, zum Täufer, zum Namensgeber, du schaffst dich selbst im Akt des Benennens – „und der Mensch gab einem jeglichen Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen“. Er fordert dich auf, Mensch zu sein, er verweist dich spielerisch in deine Grenzen, während er selbst für immer eines bleiben wird: ein Geheimnis, das sich der Willkür deiner Namensgebung entzieht. Ein Rätsel, das für dich das eine und für den zweiten etwas anderes sein wird. Ein Ding an sich, das Gegenteil eines Noumenon.

Ich habe mein Ding, das Ding, das ich jetzt herauszieh, Daumenschmeichler genannt. Das ist vielleicht scheinbar untypisch für diese Art des Sprechens, von der ich dir erzählte, und man könnte meinen, dass es meinem Ding, wie auch meiner Schöpferkraft, zu wenig gerecht werde, denn immerhin hab ich den Begriff Daumenschmeichler noch nicht einmal eigenständig erfunden, es gab ihn bereits. Esoteriker verwenden ihn für plattovale Edelsteine, die psychische Missstimmungen im Akt der Berührung durch eine spirituelle Energie von Positivität aufheben sollen. Ich habe davon, offen gestanden, wenig Kenntnis. Ich fand ganz einfach ein Wort, das andere auch schon gefunden hatten, ein Zufall, unglücklich oder nicht, die Sprache kennt eben keine endlose Anzahl an Lautbildern. Ja, ich fand ihn, ich habe ihn eigenhändig gefunden, und das wiederum, das absichts-, geradezu gedankenlose Finden von Begriffen ist kennzeichnend für die Art von Sprachverwendung, die ich dir zu beschreiben suche. Denn, nachdem ich das Ding am Strand herumschlendernd, gesichtet und es flugs in meine Tasche hatte gleiten lassen, hatte mein Daumen sich in seine Höhlung gelegt, als sei diese eigens dafür geschaffen worden, ihn mit seiner glatten Geschmeidigkeit zu umfangen. Ich, eine unruhig Schweifende, wurde ruhig. Ja, umschmeichelt war er, umhegt, und, wenn ich meinen Daumen kurz personifizieren dürfte, dann wählte ich durchaus die Formulierung, er fühlte sich dort zu Hause, angekommen, als sei diese konkave Fläche ausschließlich dafür geschaffen, ihn zu beherbergen. – „Bedenken wir demnach, daß der Daumen gleichsam den letzten, nur erst im Menschen sich vollendeten Finger darstellt, so kann ihm eine gewisse psychische Bedeutung nicht fehlen, und ebenso gewiß wird ein starker und verhältnismäßig großer Daumen eine bedeutende und besonders kräftige Individualität anzeigen, als ein kleiner, zarter oder gar verkümmerter eine schwächere oder dürftige“. Mein Daumen ist zart, sehr zart, schwach, fast kindlich, auch litt ich damals seit einiger Zeit unter einem andauernden Schmerz im Gelenk, es wird eine Art Weltschmerz gewesen sein. Pars pro toto. In diesem Moment, vielleicht auch immer, umschloss mein Daumen mein gesamtes Ich, das, was man gemeinhin Seele nennt – „Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus / Flog durch die fernen Lande / Als flöge sie nach Haus“. In eine steinerne Ewigkeit, sich anschmiegend an die eigentliche Welt. Das Ganze im Einzelnen. Das Große im Kleinen.

Um deine Vorstellung jetzt nicht im allzu Vagen verharren und mein Ding dir völlig unbegreifbar bleiben zu lassen, als sei es bloße Idee, Abstraktion, nichts wäre weniger wahr, möchte ich es dir kurz beschreiben, damit du eine sinnliche Anschauung dieses völlig unspektakulären, interesselos von der Willkür einer ausschließlich seienden, nicht planvoll agierenden Natur (oder wenn, dann nur im Dienste ihrer ureigenen uns kaum einsehbaren Prozesse als natura naturans) geschaffenen Dinges gewinnen kannst: Es ist tatsächlich selbst ungefähr so groß wie mein eigener Daumen, auch gleicht es diesem in den Ausmaßen seines Umfangs. Man könnte meinen, es sei ein grauversteinerter Zwilling desselben, ein Doppelbild, allerdings ohne die geschwungene Wölbung, die mein Daumen beidseitig aufweist. Auch fehlen die leichten Einkerbungen, die sich im ungebeugten Zustand auf der Oberfläche des Daumens abzeichnen. Der markante Unterschied, sehen wir einmal von der eklatanten Gegensätzlichkeiten der Materialien Stein und menschliches Gewebe ab, aber liegt an jener Stelle, an der mein Daumen einen Fingernagel ausgebildet hat. Dieser fehlt seinem starren Bruder. Statt einer Erhebung findet sich dort jene schon erwähnte Aussparung, die dergestalt geformt ist, dass sich die untere Seite meines oberen Daumengliedes vollumfänglich dort einfügen kann. Sie liegt darin wie in einem Bett. Streiche ich mit den Fingern meiner anderen Hand über meinen eigenen Daumennagel, dann stelle ich überraschenderweise fest, dass das Ding an dieser Höhlungsstelle eine ähnliche taktile Qualität aufweist wie mein Nagel. Es ist, als sei mein Daumen im Moment des Einschmiegens doppelt benagelt, und ich wundere mich über das Wort Nagel, verbinde ich doch mit Nägeln etwas unangenehm Spitzes und sich Verjüngendes, mein Tasten aber vermittelt mir dessen Gegenteil. Und da ist sie wieder, diese Sache mit den Wörtern, die lügen, wenn sie sich anschicken, beredt zu sein – „Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material, worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkuckucksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge.“ -, und so ist es auch mit meinem Daumenschmeichler, diesem fremden Bruder meines eigenen Körpers, in den mein Daumen, den man den Venusfinger nennt, sich fügt, als sei er sein Heim, als sei der eine dem andern eigen, als sei man füreinander da. Es sieht ein bisschen aus, als schliefen die Formen einander bei in vorübergehender Innigkeit, und so ist es auch mit meinem ganzen Ich im Kontext dessen, was ich Welt nenne. Das wird bei dir nicht anders sein, darin gleichen wir uns alle, auch wenn das Wort „Mensch“ in seiner Überformung vorgibt, der eine ginge im andern auf, und wir stets vergessen, dass wir es sind, die die Namen gaben in all ihrer Vorläufigkeit. Wir sind doch nur so sehr eins, wie wir vielfach sind.

Clemens hat gelacht, als ich ihm meinen Daumenschmeichler gezeigt habe. Fünf ist er damals gewesen, der einzige Mensch, der stumm mich verstand. Das Sprechen im Sinne der Einbildungskraft war nahezu das einzige ihm bekannte. Unglücklicherweise versuchte man andernorts, es ihm abzugewöhnen. Ich habe es schon angedeutet, erinnere dich: Dieses Sprechen, auch wenn es selbstverständlich gelogen ist wie jede andere auch, ist mir die liebste Art, denn sie weiß im Lügen, dass sie nur spielt, weil sie sich als vorläufige Wortfinderin durch die Welt laviert, in Analogien denkt, nicht in Endgültigkeiten und Wahrheitsansprüchen, sie schmunzelt über sich selbst und ihre Relativität, wenn sie ihre nie ganz ernstgemeinten Benennungsvorschläge erhebt. Clemens wusste das. Ich hörte es in seinem Lachen. Damals jedenfalls hat er auch gelacht, gesagt: „Eine Zungenflöte, Mama! Von einem Däumling!“ und ich war ungemein überrascht, dass der Daumen auch seine Gedankenwelt durchkreuzt hatte. Und wie Clemens es tat, wenn er etwas erklären wollte: Er verzichtete ganz aufs Sprechen, er handelte, steckte sich also das Ding zwischen die Lippen (mit der Nagelfläche nach unten), legte seine Zungenspitze dort herein und gab dieselben Quiekgeräusche von sich, die er machte, wenn er tat, als würde er pfeifen (was er noch nicht konnte, er war ja erst fünf). „Eine Zungenflöte! Damit spielen die winzigen Meermädchen in einem fernen Ozean!“ Und er legte sich auf den Boden unseres Ferienhauses, bewegte dann seine Beine als scheinbar unimorphe Masse schlängelnd auf und ab. Dabei blies er weiter angestrengt in das Ding und quiekte. Ich lachte nun ebenfalls. Ein Schmeichler, der mich erneut mit mir selbst vereinte, wehte plötzlich Melodien ferner Geistgestalten einer Anderswelt zu uns herüber, ich schmiege meinen Daumen jetzt fest in die Höhlung, meine Augen sind geschlossen, ich fühle nach. Fühle jene Wörter, fühle mich, fühle, wie sich Clemens‘ kleine Daumen in meine Haut gedrückt haben, wenn ich ihn an den Händen hielt, er sich festklammerte, weil er nicht in den Kindergarten wollte, höre dabei sein gespieltes Pfeifen, erinnere mich der Wellenbewegungen, die sein kindlicher Körper imaginiert hat. Er hat schon immer weit weggewollt. Fühle hinein, in diese Tage in Dänemark am Meer, nur wir zwei, in die vorläufigen Worte, die wir gesagt haben, die Nächte, in denen wir gemeinsam Leib an Leib dem Regen gelauscht, ineinander gekauert haben wie Liebende, nichts anderes waren wir ja – und wieder: Liebe: ein Wort, EIN WORT! – das Ding auf dem Nachttisch fühlte stumm mit. Einzigartigkeit, Einheit, Vielheit.

Es ist dieses Ding. Das Ding, dieses eine Ding, das alles in sich trägt. Als ich es fand schon, war es ein Ding mit vielerlei Geschichten, die ich nicht zu lesen imstande war, doch ich fühlte sie. Rätsel, Geheimnisse. Heut les ich in ihm all das, was ich einst hineinlegte. Clemens, dreißig Jahre, so weit, in einer Anderswelt bei den Geistwesen, läse sicher andres. Ich lese, lese mich, spüre es, spüre mich in ihm, Leben, in meiner Tasche, wenn ich hineingreif, mein Daumen schmiegt sich ein. Es sind Dinge wie diese, die dies können, sie können es mehr als alle andren Dinge auf der Welt. Welt. Sie könnten sie erzählen, wenn sie denn erzählen könnten, wenn sie nicht das Schweigen wählten als die einzige Sprache der Wahrheit. Aus der Vergangenheit kommen sie, sie gehen in die Zukunft. Sammeln Leben ein, Geschichten, verwahren sie in sich, verschließen sie als ein Geheimnis, das niemals sich einem Fremden offenbaren wird. Auch dir nicht. Du, du bist einer, der spricht, einer, der Namen gibt, keiner, der schweigen kann. Bist nur: ein Mensch. Wie er. Wie ich.