Lewinsky

Von Ela Meyer

Lewinsky

Jeden Morgen schloss Lewinsky die Kneipentür auf, trat auf die Straße, zog den Schleim, der sich über Nacht in ihren Atemwegen angesammelt hatte, hoch, und spuckte den Klumpen an die gegenüberliegende Plakatwand.
Sie war hier geboren, in diesem Viertel, das einmal auf den Ruinen eines anderen Viertels gebaut worden war, welches auf den Ruinen von Kaninchenbauten und Fuchshöhlen gestanden hatte. Nur noch eine Insel schiefer Häuser und Gassen war übrig, inmitten einer Horde Hochhäuser, die uns von allen Seiten umkreisten und unter ihren Schatten begruben. Die Hoch-Bahn hatte den Ortsteil in zwei Teile gerissen, sich wie ein Parasit mitten hindurch gefressen und die meisten Bewohner, deren Wände bei jedem Zug, der durch unser Viertel raste, vibrierten, waren geflohen, hatten ihre Geschichte zurückgelassen auf der Suche nach Ruhe und einem neuen Zuhause. Viele von ihnen hatten über Jahre an unserer Seite gekämpft, in dem Versuch, den Abriss aufzuhalten, doch sobald sie das Viertel verließen, verließ die meisten auch der Kampfgeist und sie wandten sich einer neuen Zukunft zu. Ich beneidete sie und blieb, denn Lewinsky wollte nicht gehen. Die Kneipe hatte schon ihrer Großmutter gehört.
„Hier bin ich geboren und hier werde ich sterben“, sagte sie und auch, wenn sie es nie zugegeben hätte, war ich mir sicher, dass sie froh war über mein Bleiben.
Lewinsky war der Motor unseres Häuserkampfes. Vor fast zehn Jahren war ich mit meinem Koffer gekommen und geblieben, mein erstes Zimmer in Freiheit nach dem Knast. Sie stellte keine Fragen, ich ersparte ihr Details. Wegen Lewinskys fortgeschrittenem Alter übernahm ich mehr und mehr Arbeiten, war Hilfskellner, Küchengehilfe und Hausmeister und zahlte am Ende weder Miete noch Mahlzeiten, einen Deal, den wir beide begrüßten. Dann, vor einem Jahr, die Ankündigung, dass auch wir bald zu gehen hätten. Plakatwände wurden aufgestellt und jedes Mal, wenn wir unsere Tür öffneten, konnten wir nicht anders, als auf die Bilder zu starren, die die neu entstehenden Wohnungen und Hotelzimmer darstellten. Sie schienen uns mit ihrer Sauberkeit und ihrem klinischen Ambiente zu verhöhnen, Luxussuiten in Pastelltönen, die im im krassen Kontrast zu unserem Viertel mit den von Generation zu Generation weitergereichten Häusern standen. Unserem Viertel mit den Antennendschungeln auf den Dächern und Stromleitungen, die sich wie Krampfadern durch die staubigen Gassen zogen. Das Bespucken der Plakatwände wurde Lewinsky so zur Gewohnheit, wie anderen das Schlagen des Kreuzzeichens beim Anblick eines Leichenwagens. Doch nun war Lewinsky tot.
Da sie mir, einem mittellosen und dazu vorbestraften Untermieter, alles, was sie besaß, vererbt hatte, gab es Untersuchungen. Ich verdankte es nicht meiner Anwältin, sondern dem Umstand, dass Lewinsky eines natürlichen Todes gestorben war, dass ich nicht wieder hinter Gittern verschwand.
Der Friedhof, auf dem wir sie bestatteten, befand sich am Stadtrand, eingequetscht zwischen Autobahnen und Einkaufzentren, und es schmerzte mich, dass sich ihre letzte Ruhestätte an einem Ort befand, den sie gehasst hätte. Unsere Nachbarschaftsgruppe erschien geschlossen zur Beerdigung. Hinterher versammelten wir uns in der Kneipe, hingen auf unseren Stühlen wie vergessene Früchte im Herbst, die der erste Frost erwischt hat, und leerten einige Flaschen auf Lewinskys Wohl.
Die wenigen Stammgäste hatten mit ihrem schmalen Lohn Lewinskys Geschäft vor dem Untergang bewahrt, und das auch nur, weil sie unterm Tresen Selbstgebrannten verkauft, den Strom von einem der letzten noch funktionierenden Laternenmasten abgezapft und Geschäfte am Laufen gehabt hatte, deren genauer Inhalt sich mir nie ganz erschlossen hatte, Abmachungen, die seit der Zeit ihrer Großmutter galten und mit Lewinskys Ableben ihre Gültigkeit verloren.
In den ersten Wochen nach ihrem Tod hielt ich mich an ihre Routine, öffnete am Morgen die Tür und kontrollierte den Gang der Bauarbeiten. Ich bespuckte das vom Staub inzwischen nicht mehr ganz so makellose Hotelzimmerplakat, fegte den Gehweg, wischte Tresen und Tische ab und fühlte mich ohne Lewinsky fremd, fand keinen Sinn in dem, was ich tat. Sie hatte ausgeharrt und für ihr Viertel gekämpft, weil es das einzige Zuhause war, das sie jemals gehabt hatte und ich hatte mitgekämpft, weil sie es getan hatte und ich den Gedanken nicht ertrug, dass ihr das einzige Zuhause, das sie jemals gehabt hatte, genommen würde.
Die Räume ihrer Wohnung wirkten, als ob sie seit den Lebzeiten ihrer Großmutter nicht verändert worden waren. Verschnörkeltes Vollholz, fleckige Spiegel, Deckchen und Nippes. Auf einer Kommode entdeckte ich ein Foto im Silberrahmen, darauf Lewinsky im üblichen Karohemd hinter dem Tresen ihrer Kneipe, so wie ich sie das erste Mal gesehen hatte. Vergrößert durch die dicken Gläser ihrer Brille verrieten ihre Augen eine Sensibilität, die nicht zum Rest von ihr passen wollte, und die Traurigkeit rieselte beim Betrachten wie Staub in mich hinein.
Auch auf anderen Fotos fand ich sie, so jung hatte ich sie nie gekannt. Schwarzweiß mit Hut, im Winter, im Wald und am Klavier, jenem, das unbenutzt unter einer Plane in der Kneipe stand. Ich hatte nicht gewusst, dass sie darauf gespielt hatte. Einmal, vor Jahren hatte ich sie darauf angesprochen.
„Das alte Ding steht noch von meiner Oma hier.“ Ihr Tonfall hatte nicht zu weiteren Fragen eingeladen.
Sie hatte alles gesammelt, Muscheln und speziell geformte Steine, Blechdosen gefüllt mit alten Briefen und stapelweise handbeschriebener Notenblätter. Notenhälse und Pausenzeichen, Forte-und Pianoanweisungen trugen ihre Handschrift. Je weiter ich eintauchte in ihre Welt, desto mehr Fragen stellten sich mir, Fragen, die sie mir nicht mehr beantworten konnte und vermutlich auch zu Lebzeiten nicht beantwortet hätte.
Ein Brief traf ein. Uns blieben noch zwei Monate. Mir fehlte die Motivation, eine Versammlung einzuberufen, stattdessen nahm ich einige Änderungen in der Kneipe vor. Begleitet von den misstrauischen Blicken des Stammpublikums befreite ich das Klavier von seiner Plane und stellte das Bild von Lewinsky im Silberrahmen darauf. Einer der Gäste, ein Greis namens Luis, setzte sich, nachdem er zwei Tage drumherum geschlichen war, auf den Klavierhocker und drückte einige Tasten. Mit geschlossenen Augen lauschte er den Tönen nach und schüttelte dann den Kopf.
„Zu lange her“, murmelte er und setzte sich wieder an seinen Tisch. Am Abend suchte ich in Lewinskys Schubladen und fand den Stapel Notenblätter, die mir nichts sagten, die Luis jedoch für mich in Musik verwandeln konnte. Zunächst mit einem Finger nur, dem Zeigefinger der rechten Hand, spielte er die erste Melodie, die ich ihm reichte. Einzelne Töne, die sich zunächst nur zögernd, dann flüssiger, wie Perlen auf eine Kette aneinander reihten und ein Ganzes ergaben. Lewinskys Musik war wie sie, holprig und kraftvoll und ein wenig schief, was Luis zufolge am verstimmten Klavier lag, aber ich wollte glauben, dass Lewinsky es genau so gedacht hatte.
Wenn ich jetzt morgens die Tür öffnete, wartete Luis schon und nahm am Klavier Platz. Es dauerte keine Woche, da gesellte sich Rosa mit ihrer Trompete dazu. Sie hatte einen ganzen Nachmittag lang verlegen auf der Türschwelle gestanden und ihr Instrumentenetui in den Händen geknetet. Erst, als ich ihr winkte, kam sie herein und Luis hatte nichts dagegen, dass sie ihn begleitete. Nach Rosa kam Paul mit seiner Gitarre, das Trio spielte ein Notenblatt nach dem nächsten und es war, als ob Lewinsky bei uns säße, wenn ihre Musik um uns herumstrich und den Raum füllte. Nach einem Monat trafen sich jeden Nachmittag schon an die zehn Musiker. Einige kannte ich von den Versammlungen, den Demos oder aus der Kneipe, aber es gab auch neue Gesichter. Ich schenkte Bier aus, wischte die Ringe, die die Feuchtigkeit der Flaschen und Gläser hinterlassen hatte, fort, und bereitete Musikern und Gästen einfache Mahlzeiten.
Die Baumaschinen rückten näher, genau wie das Datum, an dem ich die Tür ein letztes Mal öffnen würde. Wir hatten den Abriss nicht aufhalten können, aber waren entschlossen, uns nicht mit hängenden Köpfen davonzuschleichen, sondern den Abschied zu feiern. In riesigen Lettern malten wir auf die Plakatwände – die pastellfarbigen Flächen eigneten sich hervorragend dafür: Erstes und einziges Konzert am letzten Abend in Lewinskys Kneipe, Eintritt und Getränke frei!
An diesem Abend füllte sich die Kneipe, bis niemand mehr hineinpasste. Wir tanzten zu der Musik, die Lewinsky geschrieben hatte. Die Melodien schallten durch die Straßen, hallten von den Wänden der Rohbauten wieder und ich wünschte mir, dass ihre Musik die Macht besäße, sie zum Einstürzen zu bringen. Viele der Fortgezogenen waren gekommen, um gemeinsam Abschied zu nehmen, das Fest hätte Lewinsky gefallen, sie hätte es genossen, noch einmal ihre alten Mitstreiter um sich herum versammelt zu sehen.
Mein Koffer wartete hinter dem Tresen. Außer dem Foto im Silberrahmen würde ich nichts von ihr mitnehmen. Die Notenblätter sollte Luis Band bekommen, ihre persönlichen Papiere hatte ich verbrannt. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich gehen würde, vertraute darauf, dass meine Schritte mich dorthin lenken würden, wo ich willkommen wäre, genau, wie sie mich vor vielen Jahren zu Lewinsky geführt hatten. Als sich der erste rosa Schimmer der Nacht entgegen stellte, nahm ich den Koffer in die Hand und trat auf die Straße. Bei jedem Schritt, der mich vorwärtstrug, wurde die Musik leiser und ich verließ das mir so vertraut gewordene Viertel, gebaut auf den Ruinen eines anderen Viertels, welches auf den Ruinen von Kaninchenbauten und Fuchshöhlen gestanden hatte.