Marina Beach Day Resort

Von Leonie Höckbert

Am letzten begehbaren Strand der Westküste darf nichts angeschwemmt werden, noch nicht einmal Tang. Die letzten Strandgänger der Westküste zahlen beim Betreten kontaktlos eine Summe, die den Luxuscharakter der Unternehmung unterstreichen soll. Der Strand wird Tag und Nacht von Robotrashies abgesucht, die unter den Füßen der Gäste durchwuseln. Hin und wieder wird einer von ihnen von einer schlecht vorberechneten Welle erfasst und hinfort gerissen. Sicher werden die vom Restmeer gestohlenen Robotrashies auch irgendwo angespült, aber wahrscheinlich an einer verkrusteten Küstenstelle in einer Nichtgegend, die aus Gesundheitsgründen niemand betritt.

Die Strandbesucher gehen gar nicht ins Wasser, davon wird eher abgeraten, zu viel Kontakt schadet neben der vielen Sonne zusätzlich der Haut, ergo dem Aussehen. Sie schauen nur unter ihren Sonnenschirmen raus aufs Meer oder auf die Nebenliegen, um zu sehen, wer sich dort vor der Sonne versteckt. Aber wenn sie sich dem Wasser nähern, soll es sauber sein und an Massentourismus erinnern, als der Strand noch ein Urlaubsort für alle war, als es noch genug Strände für alle gab. Der letzte begehbare Sandstrand der Westküste ist die simulierte Kulisse einer All-Inclusive-Reise, wie es in den noch zugänglichen Digivalien heißt.

Die Robotrashies sind nach einem sehr einfachen Muster trainiert, sie identifizieren anhand von Nachgiebigkeit und Materialbeschaffenheit einfach alles, was nicht Sand ist, in ihrem zuvor abgesteckten Hoheitsgebiet als Müll. Dazu gehören regelmäßig auch heruntergefallene Sonnenbrillen oder durch die Strandliegenritzen gerutschte Schlüsselchips, aber im Großen und Ganzen funktioniert das System gut. Sie schieben den Müll in ihrer trichterförmigen Schnauze zusammen und bringen ihn zur strandeigenen Deponie, die einmal die Woche geleert wird.

Für die Beaufsichtigung des Müllsammelns und -abtransportierens ist Kidtwo zuständig, ein junger Mensch, der sich oft selbst daran erinnern muss, dass er froh sein kann, überhaupt noch einen sogenannten unqualifizierten Arbeitsplatz gefunden zu haben, der nicht technisiert wurde. Durch den vermehrten Einsatz humaner und humanoider Arbeitskräfte versuchen die Betreiber des Strands, den Charme der Vergangenheit zu perfektionieren.

Kidtwo hat in den letzten Tagen bei der Kontrolle der Deponie eine Entdeckung gemacht, die er sich nicht erklären kann. Es wird doch etwas angeschwemmt. Seinem Verständnis nach sollte das Restmeer so reguliert sein, dass nicht unkontrolliert Schwemmgut verteilt werden kann. Trotzdem sammeln die Robotrashies seit einigen Tagen diese kleinen, glatten Plastikdinger, man kann sie fast noch mit einer Hand halten. Kidtwo macht sich Sorgen, dass die Schwemme den Besuchern auffallen könnte, so viele Plastikdinger in verschiedenen Farben liegen schon in der Deponie. Bald kommt der Transport und leert die Deponie. Dann hätte niemand außer ihm diese Dinger gesehen, die fahrerlosen Müllautos bringen ihre Fracht in vollautomatisierte Recyclingcenter.

Er nimmt eins mit nach Hause. Bisher hatte er noch nie etwas gesehen, was er nicht für Google hätte beschreiben können. Der glatte, an den Ecken abgerundete Plastikwürfel entzog sich aber einer suchmaschinenkonkreten Formulierung. Kidtwo hält den Gegenstand ins Blickfeld von Google, aber die visuelle Suche ergibt nichts außer dem Logo einer Firma namens SEALDLING, die offenbar schon vor so langer Zeit pleite gegangen ist, dass ihre Spuren im Netz längst überschieben sind. In seiner Stadt gibt es, wie Kidtwo nachlesen kann, eines der weltweit nur zehn humanbesetzten Digivaliencenter, denen die Pflege und Leistungsoptimierung von Googlepedia obliegt. Er schickt eine Nachricht mit Hinweis auf das Logo und einem Bild des Gegenstands hin. Auf dem Bild sieht man deutlich, was man mit den Fingern kaum fühlen kann: Eine haarfeine Linie in der Mitte des Würfels.

Anstatt dass Kidtwo am nächsten Tag eine automatisierte Rückantwort mit Zugang zu den entsprechenden Digivalien und für die Öffentlichkeit unzugänglichen Googlepedia-Einträgen bekommt, stehen am Nachmittag zwei Menschen und ein Humanoider am Angestellteneingang des Strands. Die Tatsache, dass sie Einsicht in Kidtwos Lebensführungsakte haben müssen, um ihn ausfindig zu machen zu können, spricht genauso für ihre Machtposition, wie dass sie die Strandbetreiber bereits von der Notwendigkeit ihres Besuchs überzeugt haben. Sie wollen die Plastikdinger sehen. Kidtwo bringt sie zur Deponie.

Der Humanoide ist offenbar dabei, um die Würfel vom restlichen Müll zu trennen. Einer der Menschen gibt ihm Input und er beginnt, schneller als die Robotrashies die Gegenstände sammeln können, die Würfel aus der Deponie zu sortieren und nach Farben aufzuteilen. Es entstehen fünf pastellfarbene Hügel. Kidtwo wird weggeschickt, um seinem Job nachzukommen und Neugier zu verhindern.

Am Abend loggt er sich aus der Schicht aus und geht zurück zur Deponie. Im Abendlicht glänzen die erstaunlich großen Plastikwürfelhügel beruhigend. Daneben haben die Googlepedia-Menschen einige Gegenstände auf einer Art Plane ausgebreitet. Kidtwo kann nicht sofort erkennen, was die vielen kleinen, ordentlich platzierten Dinge sind. Am Rand der Plane liegen einige Würfel in zwei Hälften, geöffnet. Kidtwo fragt sich, wie sie die aufbekommen haben, aber vermutlich ist der Humanoide sehr trickreich mit solchen Aufgaben. Der Inhalt der bislang geöffneten Würfel wiederholt sich oft, identischer Schmuck, USB-Sticks, Feuerzeuge und andere, teilweise stark veraltete oder anderweitig irrelevant gewordene Dinge liegen aufgereiht nebeneinander.

Die Menschen fotografieren und notieren Stichworte zu den Gegenständen, vermutlich für die Digivalien-Datenbank. Kidtwo steht dabei und sagt nichts. Einer der Menschen macht das letzte Foto in der Reihe vor ihm und wendet sich Kidtwo zu: „Ihr Arbeitgeber hat ihrer bezahlten Freistellung für zwei Wochen zugestimmt. Das halten wir für angemessen.“ Kidtwo hatte seit Beginn seiner Arbeitszeit wie auf allen unqualifizierten Arbeitsstellen keinen einzigen freien Tag gehabt. Die Übernahme von humanoiden und robotischen Leistungsanforderungen war inzwischen Voraussetzung, um überhaupt eingestellt zu werden. Sein Blick verriet seine Verwirrung dementsprechend. „Sie haben den Googlepedia-Digivialien einen nennenswerten Dienst geleistet, indem sie diese Gegenstände vor ihrer Wiederaufbereitung gerettet haben.“ „Wir können uns eine große hybride Ausstellung mit diesem Material vorstellen“, ergänzt der andere Mensch. Kidtwo kennt die Werbung für Googlepedias hybride Ausstellungen. Er weiß auch, dass dort nie jemand hingeht, vor allem nicht vor Ort, aber die Erhaltung der musealen Infrastruktur ist Teil des Googlepedia-Aufgabengebiets und somit wesentlich für deren weitere Finanzierung. „Entschuldigung“, sagt er schließlich, „aber was ist das überhaupt?“. Er weist auf die Würfel und die vollgelegte Plane.

„Wissen Sie, was eine Zeitkapsel ist?“ „Klar.“ In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wurden manchmal welche geöffnet, die damals noch von staatlichen Institutionen abgelegt worden waren. Es war immer ein spannendes Medienspektakel, wenn eine Kapsel geöffnet wurde. „Was sie hier gefunden haben, ist ein Teil von tausenden Zeitkapseln. Ihr Hinweis auf SEALDLING war entscheidend. In den Digivalien gibt es massenweise Material zu SEALDLING, das unter den marktwirtschaftskritischen Regulationsparagraph fällt und nicht bereitgestellt wird.“ Der Mensch schweigt kurz und sieht Kidtwo erstmals richtig an. „Dass auch Sie diese Informationen nicht bereitstellen dürfen, ist Ihnen klar, nehme ich an.“ Als Kidtwo nickt, fährt er fort: „SEALDLING hat als erste Firma professionelle Zeitkapseln für den Privatgebrauch hergestellt. Ihr Versprechen war, Kapseln zu sammeln, die den ersten bemannten Marsflügen mitgegeben werden.“ Kidtwo schaute die pastellfarbenen Kapselhälften und ihren Inhalt an. Es hatte nie bemannte Marsflüge gegeben. Auf seinem Pad zeigt der Mensch Kidtwo aufbewahrte Versionen der SEALDLING-Homepage. Die Käufer konnten eine der fünf Pastellfarben wählen, dann bot SEALDLING eine Auswahl von etwa hundert, maximal zweihundert Gegenständen an, die man einfach per Klick der persönlichen Zeitkapsel hinzufügen konnte. Dabei kosteten Feuerzeuge und vakuumierte Energy Balls natürlich um einiges weniger als Miniaturausgaben von Beauty-Produkten oder geschliffene Edelsteine. Am teuersten waren eine Art Münze, die man individuell gravieren lassen konnte und der USB-Stick, auf den man eigene Dateien laden konnte, bis er voll war. „SEALDLING hat nach einigen Jahren der Produktion, als es ersten Unmut bei den Käufern gab, angefangen, Zeitkapseln auf unbemannte und weniger spektakuläre Weltraumflüge mitzugeben, mit unklarem Ziel, man kann die Dinger ja nicht einfach auf dem Mond ablegen. Jahrelang wurde spekuliert, dass SEALDLING die Gelder einstreicht und die produzierten Zeitkapseln einfach verschwinden lässt. SEALDLING hat die Kritik als Verschwörung bezeichnet und die Kritiker verklagt, konnte aber auch nicht das Gegenteil beweisen. Nur wie sie die Dinger losgeworden sind und ob sie noch irgendwo existieren, das war bisher ein Rätsel.“ „Das Sie jetzt gelöst haben“, ergänzt der andere Mann. „Sie haben sie einfach irgendwo ins Meer geworfen. Erstaunlich, dass die jetzt erst auftauchen.“ Kidtwo geht vor der Plane in die Hocke. Die ausgebreiteten Gegenstände sagen ihm wenig. Vieles ist veraltet, aber eine Zeitkapsel seiner Gegenwart würde sich vermutlich ähnlich leer anfühlen. Die Kapseln verraten eine egoistische Selbstsorge anstatt eines hoffnungsvollen Kontaktversuchs. SEALDLING verkaufte die Möglichkeit, auf dem Mars schon mal eine Versorgungsstruktur zu sichern, falls man doch selbst mal dorthin evakuiert werden müsste. Kidtwo nimmt eine Plastikkapselhälfte in die Hand. Im Inneren ist ein längst unüblicher Vorname eingraviert, darunter steht in jeder der Kapseln THIS IS MY SPACE.

Leonie Höckbert

Leonie Höckbert lebt in Mainz und manchmal auch in Wiesbaden. Vor vielen Jahren hat sie mal den Literaturförderpreis der Stadt Mainz gewonnen und seither versucht sie, das Schreiben ernster zu nehmen. Aber beim Schreiben selbst will sie am liebsten ernste Dinge leicht nehmen.

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