Mehr Zucker braucht die Welt

Von Maxie Grabo

Es würgte sie. Ein galliger Geschmack schoss ihr in die Mundhöhle, schwemmte in die Zahnzwischenräume und umspeichelte ihren Gaumen. Es schüttelte sie.
Sie hievte sich aus dem Bett und schlug die Hand vor den Mund. Sie drückte fest die Lippen zusammen. Sie schluckte es runter. Es drückte nach oben und wieder durch ihre Zähne hindurch.
Noch knapp übergab sie einen Schwall bitterer Bröckchen in die Kloschüssel.

Ihre Beine hielten nicht.

Sie holte Luft und streckte den Arm nach oben. Die Finger zielten nach dem Handtuchhalter.
Sie summte leise die Übelkeit von sich weg. „Aus Ruinen auferstanden und der Zukunft zugewandt“, kratzte es aus ihr und die Finger griffen ins Leere. Sie summte lauter und stemmte sich hoch – hochziehen, aufstehen und aufrecht bleiben. Sie kam nicht weg und blieb auf den Fliesen wo sie war, mit verdrehten Beinen, und rieb sich ein Handtuch ins Gesicht. Der nächste Schwall kroch aus ihr heraus.

Schon länger nahm es sie über. Zuerst war da der Geruch. Sie roch sich selbst. Sie roch sich scharf.
Eine stechende Note, die ihr selbst die Nasenflügel zusammenzog. Woher kamen diese essigsauren Schwaden? Was braute sich da in ihr zusammen?

Sie saß immer noch auf den Kacheln und die Gestänker entfleuchten ihr. Sie ließ den Mund weit offen stehen und lauschte den breiigen Blasen, die in ihrem Mund aufbrachen und heiße Luft ausspien.
Es brannte und ätzte ihr auf der Zunge und an den Rändern der Mundhöhle.

„Auferstanden aus den Därmen und der Gurgel zugewandt“, gluckste es aus ihr heraus.
Was war das?

Sie musste aufstehen. Jetzt.

Sie presste die Lippen aufeinander. Sie verkantete die Kiefer. Sie kommandierte ihre Zunge, den Reizstoff wieder nach unten zu rudern. Doch das bittere Gebräu klopfte schon wieder an und schob sich wieder und wieder gegen ihre Zähne, leckte an den Rändern der Mundhöhle. Es kitzelte und sie öffnete den Mund. Grummelige Geruchswolken schlugen heraus und schufen Platz für noch mehr und noch weitere Bitterstoffe, die empor gifteten.

„Die Zähne zeigt wer das Maul aufmacht“, höhnte es jetzt aus ihr heraus. Das war nicht ihre Stimme.
Ganz sicher nicht. Ihr Bauch grummelte und schlug Wellen. Mit der Zunge führ sie über ihre Zähne.
Sie waren rau und ritzten in das Zungenfleisch. Sie zog die Zunge schnell zurück.

Ihre Zähne ruinierten. Der Schmelz war weggeätzt und Risse fraßen sich hindurch. Sie bröckelten an einigen Hälsen und Kronen.

Der üble Schleim drückte weiter vom Magen unaufhörlich nach oben. Sie fletschte die Zähne.
Ein giftig-gelber Schwall dampfte heraus.
Es spuckte aus ihr heraus und schrie: Mach kaputt was dich kaputt macht.
Dann schossen Lachsalven aus ihren Eingeweiden.

Sie befühlte ihren Magen, stieß die Hand in die linke Bauchseite hinein und umfasste ein rundes,
ein irgendwie festes Etwas.

„Hihi, nicht kitzeln“, dröhnte es aus der Magengegend.

Sie umdrückte mit ihren Fingern einen Klumpen.

„Aua“, stöhnte der formlose Klumpen,der wabbelig in ihrem Magen steckte. Er war zu dick, um die zottigen Wände nach oben zu klettern. Er stopfte wohl schon länger in der Ecke und blähte sich auf.

„Hättest du mich mal gefragt. Ich hätte dir schon damals sagen können, dass das alles zum Scheitern verurteilt ist. Bloß schöne Fantasie und hoher Anspruch, aber wenn dann der Alltag kommt, die viele Zeit auf der Arbeit, die Müdigkeit, die Stumpfheit und der unbedingte Wunsch zu schlafen, dann bleibt nicht mehr viel nach“, höhnte der Klumpen, der sich noch ein paar Zentimeter weiter dehnte und der Speiseröhre die Luft abquetschte.

Sie schnappte und zog den Atem durch die Nase.

Eine neue Stimme schepperte an ihr Ohr.

„Zahme Vögel singen von Freiheit, wilde Vögel fliegen! Ja, wohin fliegen sie denn. Ins Eigenheim hinter kunstvoll gestickte Gardinen“, krakeelte es weiter und lachte lauthals. Die Stimme war höher. Quietschiger. Die Stimme verschluckte sich und hustete schrill.
Ihr Bauch bebte. Sie fasste hinein und ergriff einen harten Knoten gleich neben dem Solarplexus.
„Oja, das tut gut. Ein wenig weiter links, da bin ich ganz verspannt“, fiepte es. Sie ließ los.
„Äh, weitermachen. Los, los“, schimpfte die Verhärtung.

In ihrem Magen brannte es, die Feuer zuckten hoch bis in ihren Hals und rösteten die Mandeln. Wasser! Sie musste sich löschen. Sie zog sich hoch. Ihre Finger ergriffen den Handtuchhalter und behielten ihn. Sie kam hoch und schwankte in die Küche. Sie hielt den Mund unter den Wasserhahn und ließ ihn volllaufen. Sie spülte aus und nahm ein paar Schlucke. Sie kühlte es runter.
„Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, planschte es leise aus ihr heraus.
Ihr Magen bebte und boxte gegen seine Außenhaut.

„Unter dem Pflaster liegt der Strand“, sangen der Klumpen und gackerte der Knoten. Sie boxten und hüpften rhythmisch auf und nieder und auch mal zur Seite, so dass das Wasser ihr wieder aus dem Mund schwoll.
Zucker, sie brauchte Zucker, um die Verbitterung zu süßen, sie klebrig einzufangen und mit einer raffinierten Panade lahmzulegen. Sie riss den Schrank auf und kriegte das Glas zu fassen. Mit der Hand holte sie einen Löffel voll hinaus und ließ ihn in ihren Mund rieseln.
Die Kristalle kratzten im Hals und schürften die Röhrenhaut auf.
„Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten“, agitierte der Klumpen.
„Still loving feminism“, krähte der Knoten und schob hicksend hinterher. „Und wer macht immer noch den Dreck weg?“

Sie stopfte noch mehr harte kleine Körner in sich hinein.

Der Klumpen und der Knoten wieherten lauter vor sich hin und sangen lauthals: Eines Morgens in aller Frühe trafen wir auf unseren Feind. Zucker ciao, Zucker ciao, Zucker ciao ciao ciao…

Sie brauchte noch etwas. Etwas das den Zucker besser gleiten ließ, ihn transportierte und die verbitterten Gewülste umschloss.

Sie öffnete den Kühlschrank. Viel gab er nicht her. Eine Gurke, etwas Käse, Erdbeermarmelade und Quark. Sie nahm die Marmelade und löffelte sie in sich hinein. Nach drei Schlägen schaufelte sie Luft am Boden des Glases. Sie riss den Quark auf und drückte die Masse in ihren Mund, streute Zucker hinauf und rührte mit der Zunge um. Langsam schluckte sie den Brei und drückte ihn hinunter.

„FCK NZS! FCK AFD! FCK ZCKR!“, schunkelten die beiden Verbitterten, die sich schon in den Armen lagen.

Sie schluckte kräftiger und setzte das Zuckerglas an die Lippen.
Die letzten süßen Krümel fielen in sie hinab.

Sie kaute und schluckte und kaute und schluckte.

Es spotzte, grummelte und nölte von tief unten.
Der dicke Quarkschleim erstickte langsam die Worte. Die Stimmen verdünnten sich.
Sie trank noch ein wenig Wasser.
Die Stimmen verdünnisierten sich.
Es wurde ruhig. Es blieb ruhig.

Sie wischte sich mit dem Geschirrtuch über den Mund und schrieb eine Nachricht an ihre alten Freund*innen, an die in die Jahre gekommenen Weggefährt*innen und
an die einstigen Genoss*innen.

Sie tippte: „Die Revolution ist großartig, alles andere ist Quark!“

Maxie Grabo

kam von ‚drüben‘ und ist im ‚hüben‘ hängengeblieben, sammelt Worte die lautmalerisch den Mund öffnen und schwört auf den Club der genialen Dilletant*innen, auch als DIY auf riot-grrrl-punkerisch bekannt. Maxie Grabo ist nur ein Pseudonym für all die Kopfmonster und der Freude an den in die Welt ziehenden langbeinigen Geschichten.

Webseite