Monogamie

Wozu braucht man denn Geschichte? Noa schaut auf den unaufhörlich blinkenden Stundenplan und stöhnt. Gegenwart und Zukunft zählen, nicht die Vergangenheit. 
            Auf Noas Retina erscheint eine Nachricht von Bo: Heute Abend ins Cinotaurium? 
2020er Retro-night. 
           Gehe schon mit Mika cyberjetten, denkt Noa und verschickt den Gedanken. 
           Schade, antwortet Bo. 
Noas Verabredung mit Mika ist schon in einer Stunde, jetzt aber reinhauen mit Geschichte. Noa macht es sich im Sessel bequem, Kopf gegen die Lehne, atmet tief ein, dann aus und drückt den Knopf für das volle Immersionsprogramm. Geschichte, Lektion 768 erscheint auf Noas Retina. Große Konzepte der Menschheitsgeschichte: Monogamie. Noa gähnt. Wahrscheinlich wieder etwas mit Eiweißen, von der Zeit, in der Menschen noch Tiere aßen und es noch keine Proteinfarmen gab. Weiter. Unter Monogamie versteht man eine lebenslange exklusive Paarbildung und Fortpflanzungsgemeinschaft zwischen zwei Individuen einer Art. Noa muss laut lachen. Haben die Menschen das früher gemacht? Mit nur einer Person zusammen sein? Wie soll das denn bitte schön gehen? Und warum sollte man das überhaupt machen? Noa stellt sich für einen Moment vor nur mit Bo zusammen zu sein. Einander noch öfter zu sehen, die Mikazeit und die Yukizeit auch mit Bo zu verbringen. Das geht doch gar nicht. Nach ein paar Stunden Bo muss Noa sich erstmal entboisieren. Und wie sollte Noa überhaupt ohne Mika und Yuki können? Ohne stundenlange Gespräche, Lachen, atemberaubenden Sex, zusammen cyberjetten: muss das dann auch alles mit Bo? Das geht doch gar nicht. Wohlmöglich auch noch mit Bo zusammenleben? Der letzte Anblick abends: Bo, und das Erste, was Noa morgens sieht: Bo. Und das dann lebenslang. Noa schüttelt sich. Wie konnten die Menschen das bloß aushalten? Noa ist froh, in der Gegenwart zu leben und nicht in der Monogamie-Zeit, in der Menschen nicht nur bloß knapp hundert Jahre alt wurden, sondern auch schon ab siebzig verschrumpelt wie alte Rosinen aussahen. Und dann auch noch ihr ganzes Leben mit nur einem Partner verbrachten. 
          Noa denkt an Yuki und Yukis Morgenmuffelheit. So jemandem will man doch gar nicht vor zwölf Uhr mittags begegnen. Und Mika dann? Noa denkt an Einschlafen mit Mika, Wachwerden mit Mika, Kinder großziehen mit Mika, Steuererklärung mit Mika – sie beide Schulter an Schulter auf dem Wassersofa. Noa spürt auf einmal ein warmes Gefühl im Bauch, wie selbstgemachte dampfende Tofubrühe auf leerem Magen. Mika 24-7. Keine Nachrichten mehr schicken, weil Mika dann immer in der Nähe ist; keine höchst komplexen Kalendersynchronisiationsprobleme mit Mika, Yuki und Bo. Wenn Noa nur noch mit Mika zusammen ist und Mika nur noch mit Noa, dann braucht Noa sich auch nicht mehr Mikas zahlreiche Date-Geschichten anzuhören. Nicht mehr in die funkelnden Augen zu schauen, wenn Mika von den neusten Eroberungen schwärmt. Dann braucht Noa selbst auch nicht mehr mit all den unmikamäßigen Wesen zu daten. Der Stundenplan blinkt. Auf Noas Retina erscheint: Fokus!
           Noa richtet sich auf und schickt einen Gedanken an Mika, Yuki und Bo: Hallo ihr Lieben, zur Info: ich mache ab jetzt Monogamie. 
           Ob man das Essen kann, kommt es von Bo zurück. 
           Mono-was? will Yuki wissen. 
           Mit Mika, schickt Noa schnell hinterher. 
           Sorry, keine Zeit für neue Hobbys, habe gerade ein Date, müssen das Cyberjetten verschieben, antwortet Mika.
           Der Stundenplan piept. Die Geschichtsstunde ist beendet. 
Lena Kurzen

Lena Kurzen (1982) kommt aus Ibbenbüren am Rande des Teutoburger Waldes und wohnt in Amsterdam. Lena ist Logiker:in und hat als Projektmanagement Consultant im Schiffbau gearbeitet. Lena schreibt meistens Kurzprosa auf Niederländisch und seit Kurzem auch ab und zu auf Deutsch. Außerdem schreibt Lena gerade zwei Romane.

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