Querbalken

Von Andreas Kraft

Bei einer Wanderung durch den Wald stieß ich auf alte, ausrangierte Gleise. Sie waren zum Teil von saftiger Vegetation überwuchert, aber noch zu betreten. Ich fand es für eine Weile amüsant, mir meinen Weg von Querbalken zu Querbalken zu bahnen, bis ich mir dessen bewusst wurde, dass ich gerade mein Leben sinnbildlich vor Augen hatte. Die Querbalken repräsentierten die Probleme, denen wir im Leben begegnen. Wie Gleise werden wir benutzt, befahren, oft blöd von der Seite angefahren, bis wir im Alter zum Abstellgleis werden. Ich korrigiere „Abstell-Greis“! Als kreativer Freigeist bewegt man sich generell auf Nebengleisen, was für Außenstehende manchmal als „neben der Spur“ aussieht.
Ein Lichtblick ist die Landschaft rechts und links der Gleise. Diese kann betörend oder karg sein, je nachdem, wo wir uns im Leben gerade bewegen. Manchmal läuft es wie auf Schienen. Dann gibt es Abschnitte, wo wir mit angezogener Notbremse überhaupt nicht vom Fleck kommen. Manchmal können wir die Weichen stellen, dann wiederum bekommen wir welche gestellt wie ein Bein. Die einzelnen Haltestationen am Schienenweg repräsentieren unsere Lebensstationen: Geburt, Einschulung, Bildungsabschlüsse, Führerschein, Errungenschaften oder Auszeichnungen, Beförderungen oder Kündigungen, Urlaube oder größere Reisen, Beziehungen oder deren Ende, Dahinscheiden von Liebsten oder unser eigenes Dahinscheiden. Willkommen im Leben!
Warum mich diese Analogie plötzlich so berührt hatte? Ich stand gerade auf einem Querbalken, nicht nur wörtlich. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich nämlich auf Jobsuche. Erneut ist ein Arbeitsvertrag abgelaufen. Es war nicht der erste und würde nicht der letzte Arbeitsvertrag werden, der mal aus wirtschaftlichen, mal aus anderen Gründen nicht fortgeführt würde.
Es ist unmöglich sein Leben weitsichtig zu gestalten, wenn man beruflich nur ein Jahr in die Zukunft blicken kann, wonach der Perspektivfaden reißt. Viele Arbeitsstellen basieren auf der gutgläubigen Aussicht an eine Verlängerung…, irgendwann…, vielleicht…, in einem anderen Leben…, in einem Paralleluniversum. Das soll vermutlich ein Motivationsfaden sein, damit man sich den A… aufreißt.
Über die „Generation Praktikum“ schweige ich lieber. „Generation Smartphone“ hat einen angeborenen Haltungsschaden und lebt gänzlich in der virtuellen Realität, in Sozialen Medien ohne jeden Bezug zur Sozialisation. Die sind nicht organisiert, sondern digitalisiert. Statt vom Sonnenlicht, werden sie vom Blaulicht der Bildschirme beschienen. Blaulicht ist im Internet aber wirklich angebracht, dort ist nämlich die Kriminalität organisiert. Das Internet bietet viel Potential, auch Flexibilität in Bezug auf Home office. Diese berufliche Möglichkeit ist seit Corona gesellschaftsfähiger geworden. Zuvor war es eine schöne Bequemlichkeit. Dabei erspart sie „nur“ den Arbeitsweg, aber nicht die Arbeit, die einen selbst nach dem offiziellen Feierabend nicht loslässt.
Oft ist der neue Job an einem entfernten Ort. Vertragsbedingt muss man dann die Entscheidung fällen, ob man umzieht, den unaussprechlichen Luxus einer Zweitwohnung wahrnimmt oder ewig lang pendelt. Nicht selten verbringt man dann Stunden auf Gleisen, schaut nostalgisch seiner verrinnenden Lebenszeit aus dem Fenster nach, bis man nach Vertragsende erneut auf dem Abstellgleis der Arbeitslosigkeit landet. Statt einer Karriereleiter nach oben, bewegt man sich entweder auf der Stelle im Hamsterrad oder von Querstrebe zur Querstrebe sogar abwärts. Denn der wechselhafte Abstieg verwehrt einem den firmeninternen Aufstieg. Man muss sich jedes Mal von Neuem die Stellung im Unternehmen erarbeiten, wenn nicht gar erkämpfen. Vereinzelte Karrieresprünge bleiben in glücklichen Fällen nicht aus, meist trifft den Ellenbogen-Techniker dieser Glücksfall. Ein Auf und Ab, Gefühlsachterbahnhof!
Als ungebundener Single in jungen Jahren steckt man solch eine berufliche Schnitzeljagd noch einigermaßen weg. Man sammelt Erfahrungen. Ein Umzug oder ein Auslandsaufenthalt werden als willkommene Abwechslung angesehen, so bekommt das Leben neue Impulse. Zum beruflichen Hürdenlauf werden solche Eskapaden, wenn man mehrere hundert Kilometer von seiner Familie weg wohnt, seine Liebsten nur am Wochenende sieht, von seinen Kindern entfremdet und eigentlich kein Leben, sondern ein Dasein führt.
Wer eine Familie zu versorgen hat, kann sich Arbeitslosigkeit schlichtweg nicht leisten. Außerdem steht man vor dem kritischen Auge der Gesellschaft extrem schlecht da. Zwar hat sich das seit Corona geändert, da für einige Monate so ziemlich alle arbeitslos wurden, davor degradierte Arbeitslosigkeit einen ohne Umschweife zum „Sozialschmarotzer“. Faulenzer statt Freelancer. Auf den ersten Blick leistet man keinen Beitrag zum Allgemeinwohl, was für die Sozialkasse zutreffen mag, aber nicht unbedingt für den sozialen Aspekt, wenn man sich ehrenamtlich engagiert oder eine geliebte Person verpflegt.
Langzeitarbeitslosigkeit ist in unserer Leistungsgesellschaft ein Schwerverbrechen, welches mit Missfallen und Ausgrenzung bestraft wird. Ich weiß, es ist ein heikles Thema. Leistungsdruck vs. Leistungsdrückeberger, in Abhängigkeit davon, auf welcher Seite vom Tisch man beim Jobcenter sitzt. Man darf nicht vergessen, dass dieser runde Tisch scharfe Kanten hat, an denen jeder anecken kann. Schwarze Schafe gibt es überall, aber deswegen die ganze Herde dem bösen Reisswolf vorwerfen?
Die Wenigsten fragen, wie es so weit kommen konnte? Zugegeben mir wurde diese Frage schon mal gestellt. Ich versuche sie mal allgemein, ohne Anspruch auf Richtigkeit, zu beantworten.
Wirtschaftliche Gründe hatte ich bereits erwähnt. Unternehmen gehen pleite, nicht nur coronabedingt. Häufige Haltestationen durch zeitlich begrenzte Arbeitsverträge sind ein weiterer Grund. Wobei wechselnde Arbeitsstellen nicht zwingend berufliche Entgleisungen sind oder ein Zeichen für einen sprunghaften Arbeitnehmer. Es sind Lernstationen, die den Horizont erweitern. Oft befinden wir uns unwillkürlich auf diesen schicksalhaften Irrwegen, werden jedoch wie Irrgläubige verbrannt.
Dazwischen entstehen Lücken im Lebenslauf, die im Personalbüro unweigerlich Karies verursachen. Wer hat beim Vorstellungsgespräch schon mal in sein Leben gebohrt bekommen? Oft wird ein gesunder Zahn gezogen, woraufhin eine Lücke entsteht, wo vorher keine war. Egal, mit Xylit ist das Leben wieder Zucker, sogar im hohen Alter.
Demographische Gründe spielen eine essentielle Rolle. Rente mit 67 ist eine gesetzliche Vorgabe, die nicht berücksichtigt, dass man in vielen Branchen mit 50+ zum alten Eisen gehört und deswegen nicht mehr eingestellt wird. Selbst in akademischen Kreisen muss man im Alter seinen Titel verteidigen wie ein Weltmeister. Mit dem Fachkräftemangel wird gezwungener Maßen auch das Alter wieder zunehmend wertgeschätzt. Es birgt den unbezahlbaren Schatz der Berufserfahrung. Aber was weiß ich junger (Job)Hüpfer schon? Immerhin durfte ich den Zahn der Weisen behalten.
In manchen Berufen verschleißen Menschen körperlich. Wer als Maurer eine falsche Hebetechnik für die Steine anwendet, leidet an chronischen Rückenschmerzen. Wer als Fliesenleger keine Knieschoner verwendet, hat schon bald kaputte Knie. Vergiftungen mit Gasen oder Chemikalien lassen sich in manchen Branchen nicht vermeiden. Und Unfälle passieren nun mal. Sitzen ist das neue Rauchen. Bewegungsmangel ist der Tod des Steinzeitmenschen.
Wer wegen seines Berufs Depressionen bekommt, wird neben dem schlechten Lohn mit einer schlechten Haltung belohnt. Das tritt gehäuft auf, wenn das Arbeitsverhältnis zum Ausnutzungsverhältnis wird oder die Tätigkeit für einen persönlich keinen Sinn ergibt. Erstaunlicherweise sind Menschen in sozialen Berufen oder Branchen mit engem Menschenkontakt unglücklicher als in anderen Arbeitsfeldern. Das könnte mit dem Stress zusammenhängen, den sich Menschen gegenseitig antun. Vermutlich auch ein wesentlicher Grund dafür, warum so viele bestrebt sind, ihr „eigenes Ding“ zu machen.
Wer auf der Arbeit hinterrücks gemobbt wird, bekommt einen reizenden Reizdarm oder entzückende Entzündungen, der karrierebahnbrechende Brechreiz setzt der nächstenlieben Zusammenarbeit ein i-Tüpfelchen drauf. Bei Stress brennen die Menschen komplett durch. In westlichen Zivilisationen wurde dafür der Begriff Burn out geprägt. Dies ist treffend formuliert, doch verblasst dieser Begriff gegen das japanische Wort für den Tod durch Überarbeitung, Karoshi. Ein entsprechendes Sprach-Pendant ist der Anglizismus self empowerment death.
Der Körper puffert den Dauerstress eine Zeitlang ab, bis entweder die Psyche versagt oder psychosomatische Beschwerden einen aus der Karrierebahn werfen und somit zum Sozialfall machen. Ich korrigiere „Sozialabfall“! Stress ist Krebs der Neuzeit und oft Ursache für tatsächliche Krebserkrankungen, wenn das lädierte Immunsystem mit angezogener Notbremse versucht, gegen natürlich vorkommende Mutationen anzukämpfen. Zwar verbrennt Stress Kalorien, aber auch Vitamine und essentielle Nährstoffe, die an anderer Stelle für Stoffwechsel- sowie Selbstheilungsprozesse gebraucht würden. Gerät das Leben aus der Balance, kann aus unkontrollierten Gefühlschwankungen unkontrollierter Zellwachstum werden. Das Berufsleben kann uns also nicht nur Nerven, sondern die komplette Gesundheit kosten.
Ein nervensägender Job verfolgt uns oft im Privatleben weiter, wie ein japanischer Rachegeist, lässt uns nicht ruhig schlafen und kann die Harmonie in Beziehungen zerschreddern. Die verschobenen Querbalken verziehen dann den Lebensgleis in alle (un)möglichen Richtungen. Ich beglückwünsche daher jeden, der seinem Traumberuf nachgeht, geschlechtsunabhängig fair entlohnt wird und regelmäßig Lob sowie eine Gehaltserhöhung für seine Bemühungen erhält. Man darf nicht vergessen, dass Arbeitszeit bezahlte Lebenszeit ist, die sinnvoll investiert werden sollte.
Willkommen in einem lebenswerten Leben, das wie auf Schienen einer Magnetschwebebahn läuft, widerstandsfrei!

Andreas Kraft

In Anthologien und Zeitschriften anzutreffen, noch öfter in der Natur. Kreativ bis geht nicht mehr. Ich korrigiere „Me:er“!

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