Sei froh, dass du noch lebst!

Von Antje Pollok-Giese

„Sei froh, dass du noch lebst!“ – Wie sehr ich es hasse, das zu hören. Soll das jetzt mein Leben sein??? Ich liege hier, an dieses Bett gefesselt und alles, was ich machen kann ist meine Augen zu öffnen.
Sie kommen jeden Tag und fragen mich, ob ich die Finger bewegen kann, ob ich irgendwas bewegen kann, ob ich irgendwas spüre.
Ja, ich spüre etwas. Wut. Alles in mir brennt und ich kann es nicht kundtun, ich kann es niemandem entgegen brüllen. Und ich spüre noch etwas, die Enge in meiner Brust, weil ich an dieses Leben gefesselt bin und dem Ganzen nicht entfliehen kann.
Warum habe ich diese blöde Erklärung nicht fertig geschrieben, dass ich keine lebenserhaltenden Maßnahmen haben möchte? Dann wäre ich nicht in diesem Schlamassel. Dann würde ich hier jetzt als Geist durch die Gegend schweben und den anderen zu sehen. Aber so. Ich kann hier nur liegen und habe ein extrem eingeschränktes Sichtfeld, weil ich sonst nichts bewegen kann. Ich kann nicht meinen Kopf zur Seite drehen und aus dem Fenster schauen. Nick sagt, dass es ein toller Ausblick ist. Schön für ihn. Dann soll er mein Bettgestell verändern, damit ich es auch sehen kann.

Ich habe mir früher oft die Frage gestellt, was schlimmer ist. Blind oder taub zu sein. Ich bin beides nicht und doch irgendwie schon.
Ich kann nur hören, was man mich hören lässt und nur sehen, was man mich sehen lässt.
Ich kann nicht meine Lieblingsmusik hören, ich kann Nick nicht freudig lachen und Scherze machen hören. Ich kann keinen Sonnenaufgang sehen, keine Verfärbung des Himmels, keine fröhlichen Gesichter.
Meistens sehe ich nur die Deckenplatten in diesem blöden Krankenzimmer.
Und wünsche mir, dass ich einfach eingeschlafen wäre. So wie Opa. Einfach. Kurzes Unwohlsein. Schmerz. Dunkelheit. Keine Schmerzen mehr. Frieden. Ruhe. Ende.

Aber so ist es nicht. Am meisten ärgere ich mich darüber, dass ich nicht auf mein Bauchgefühl gehört habe. Ich wusste, dass irgendwas nicht stimmt, als ich immer vergesslicher wurde. Ich dachte, ich wäre überarbeitet, nicht fokussiert, dehydriert, unterversorgt von Mineralien und Vitaminen. Ich hatte kurz überlegt, zum Arzt zu gehen, aber wer geht schon zum Arzt, weil er mal wieder vergessen hat, dass im Kofferraum noch ein Päckchen liegt, dass man zur Post bringen wollte. Oder die Milch zu kaufen. Oder so in Gedanken war, dass man den normalen Weg nach Hause gefahren ist, ohne bei Oma anzubremsen. Oder fragt, ob man das Dings aus dem Backofen haben kann, weil der gerade geöffnet wird und nicht sagt, dass man die Butter aus dem Kühlschrank haben möchte?
Das sind doch Lappalien und mal ehrlich, ich dachte eher, dass ich dement werden würde, und fand es einfach nur verängstigend mich irgendwann an nichts mehr erinnern zu können, wie die Frau in dem Film. Sie war eine hoch brillante Professorin mit einem fantastischen Gedächtnis und nachdem sie sich erst nur auf ihrer Routinelaufstrecke verlaufen hatte, wusste sie am Ende in ihrem eigenen Haus nicht mehr, wo die Toilette war, und hat sich eingemacht.
Wer will denn schon so enden? Und mal ehrlich das ist eine Krankheit, die sich eh nicht aufhalten lässt. Warum soll man dann zum Arzt gehen und früh eine Diagnose bekommen, wenn man mit dem Ergebnis nichts anfangen kann?
Woher sollte ich wissen, dass es auch andere Dinge sein könnten? Hat Doktor Google mir das kundgetan? NEIN.
Tja, und jetzt liege ich hier und darf mir täglich anhören „Sei froh, dass du noch lebst.“ Je länger sie es mir erzählen, umso mehr verschwindet das Ausrufezeichen hinter dem Satz, wird zu einem Punkt und wandelt sich ganz langsam zu einem Fragezeichen.

Am Anfang dacht ich noch. Wie furchtbar, ich liege hier und muss mich waschen lassen. Ich werde von wildfremden Menschen angefasst. Aber mal ehrlich. Das findet nur in meinem Kopf statt. Als wenn ich auch nur irgendwas davon spüren würde.
Die Ärzte erzählen mir, dass ich es irgendwann wieder spüren werde. Meine Nerven wurden schließlich nicht beschädigt. Was wissen die schon? Liegen die hier und spüren nichts, oder liege ich hier und sehe mir die Decke an?
Warum sind diese Krankenhausdecken eigentlich so wahnsinnig langweilig? Warum ist nicht schon mal jemand auf die Idee gekommen Bilder an die Decke zu malen, oder aufzuhängen? In unserer modernen Zeit sollte die Decke aus Bildschirmen bestehen. Dann könnte ich endlich mal was anderes sehen.
Ob sonst noch jemand weiß, dass die Deckenplatte direkt über mir 253 Punkte hat?

Es sind jetzt 99 Tage, an die ich mich erinnern kann. Die ich in dieser bewegungslosen Hülle verbringen musste und ich rechne es Nick hoch an, dass er jeden dieser 99 Tage bei mir war und vermutlich auch die 43 Tage davor. Er hat mir davon erzählt, wie es war, als er nicht wusste, ob ich wieder aufwache. Ich würde ihn so gern in meine Arme ziehen und ihm sagen, dass alles wieder gut wird. Aber wie soll ich das tun?
Zum einen kann ich mich immer noch nicht bewegen und zum anderen glaube ich ja selber nicht daran. Wie soll ich ihm etwas vorgaukeln. Er kennt mich so gut, er würde mir an den Augen ablesen, dass ich es nicht so meinen würde. Ich wünschte nur, ich könnte mit meinen Augen sprechen.
Jeden Tag versuche ich, ihm mit Blicken zu erklären, dass ich mal etwas anderes sehen möchte. Aber der einzige Moment, wo ich mal nicht die grauen Platten sehe, ist, wenn ich gewaschen werde. Alle drei Tage. Dann für einen kurzen Moment werde ich umgelagert und ich kann einen Blick nach draußen erhaschen. Es ist wirklich ein toller Ausblick. Könnte ich ihn doch nur öfter sehen.

Tag 100 und die gefühlt zehnte Therapeutin erscheint in meinem Blickfeld. Und ich kenne sie. Ich bin mit ihr im Kindergarten gewesen. Die kleine Antje haben wir sie genannt. Klein ist sie immer noch, aber mit Abstand nicht mehr so elfengleich wie früher. Jetzt sieht sie mehr wie die Trollin, aus der Eiskönigin aus. Wenigstens lächelt sie auch genauso.

Das Erste, was sie macht, bevor sie „Hallo“ sagt, ist mein Kopfteil hochstellen und mein Bett in Richtung Fenster schieben. Und ich kann das Meer sehen. Nick hat es tatsächlich geschafft eine Klinik zu finden, die direkt am Meer liegt und endlich weiß ich, woher er die Kraft nimmt jeden Tag zu mir zu kommen und nicht völlig daran zu zerbrechen. Ich kann ihn sehen, direkt vor meinem Fenster erstreckt sich das Meer und ich kann einen einsamen Kitesurfer sehen. Er ist mit seinem 15er Kite unterwegs, also ist es nicht besonders windig. Er gleitet über die kleinen Wellen und springt sogar. Wir sind schon so lange hier, dass er es endlich lernen konnte.

Es ist einer der schönsten Augenblicke, den ich seit Wochen gesehen habe. Mir laufen Tränen über die Wangen und ich hebe meine Hand, um sie wegzuwischen. Es ist so eine gewohnte Bewegung, dass es mir nicht einmal auffällt.
ENDE

Antje Pollok-Giese

lebt mit Mann und Katze in Niedersachsen. Dort arbeitet sie bei einem Autobauer im Engineering. Um der tristen Mechanik zu entfliehen, jongliert sie gern mit Wörtern. Mal bleiben sie in der Luft und ergeben ein stimmiges Gesamtbild und manchmal fallen sie zu einem interessanten Chaos herunter.

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