SONDERELLA – Gefangene der Unzeit

Von Boris Kant

Das Raumschiff Eurydike durchstreift mit ihrer 400-Mann starken Kommandantin SONDERELLA die Tiefen des Alls. Immer auf der Suche nach Abenteuern und Zukunft.

Als plötzlich ein Unglück eintritt, das die Aussicht auch nur eine der so Begehrten je wieder zu erleben, zunichte macht. Eurydike erkennt die Tragweite der Ereignisse sofort und schlägt Alarm.

„Was ist das für ein Getöse? Stell das ab, Rydike!“

„Das – oh Kommandantin – das ist der Alarm. Ich habe mir erlaubt, ihn auszulösen. Wir haben ein wahnsinnig ernstes Problem!“

„Ja. Und ob. Eine Kommandantin, die ihren Schönheitsschlaf braucht! Und wenn sie den nicht bekommt, unausstehlich wird. Ich hoffe, du hast einen guten Grund, um diese Zeit durch zu klingeln?“

„Den habe ich wohl! Seht Kommandantin: Wir haben keine Zeit mehr!“

„Für?“ SONDERELLA reibt sich verärgert die Augen. „Für was, wenn ich fragen darf- falls unsere knappe Zeit das zulässt. Und was soll die Hektik überhaupt? Alles ist traumhaft ruhig. Nur du nicht. Draußen ist – wie immer – nichts Aufregendes zu sehen. Könntest du dich nicht ein wenig klarer ausdrücken?“

„Wir haben keine Zeit mehr. Keine Zeit für Zukunft. Keine für Abenteuer. Keine mehr für irgendwas. Um uns herum steht die Zeit absolut still. Wir sind in eine nicht verzeichnete Zeitanomalie hinein geraten. Und das bedeutet, dass es kein vor und kein zurück seitdem mehr gibt. Wir sitzen hier für alle Ewigkeiten fest!“

„Und? Deswegen weckst du mich? Wenn die Zeit still steht, hat es wohl keine Eile. Ich leg mich wieder hin. So eine Situation erfordert eine ausgeschlafene Führungskraft!“

Eurydike ist überfordert. Wie soll Sie es nur begreiflich machen?

„Ihr versteht nicht, Kommandantin. Wir wissen nicht, wie lange wir überhaupt noch Handeln können. Bevor auch wir in der Unzeit gefrieren.“

SONDERELLA schaut skeptisch, Eurydike lässt sich davon nicht beirren.

„Wir beide können uns nur deswegen noch unterhalten, weil ich den Lauf der Zeit auf der Kommandobrücke künstlich aufrecht erhalte. Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt, bevor sie auch hier an Bord endgültig stehen bleibt. Wenn ihr euch Schlafen legt, besteht die gute Chance, dass Ihr bis in alle Ewigkeit nie wieder aufwacht!“

„Hui. Wie Schneewittchen – nur ohne wachgeküsst zu werden. Das klingt schon verdammt öde. Vor allem für die Leser! Du musst wissen: Ich plane unsere Abenteuer nach unserer Rückkehr nieder zu schreiben. Doch dafür verlangt es natürlich erst einmal nach Ereignissen. Eine Ewigkeit, in der gar nichts passiert, braucht kein Mensch. Was schlägst du vor, sollten wir nur tun?“

„Ich habe noch keine Antwort, Kommandantin. Doch wenn Ihr Euren Blick in diese Richtung lenkt, dann seht Ihr vielleicht den kleinen Schimmer in nicht all zu weiter Ferne. Da scheint sich noch etwas zu bewegen. Das bedeutet, dass dort noch Zeit abläuft und vielleicht beginnt ab da die Zukunft wieder. Leider bewegt sie sich nicht in unsere Richtung.“

„Und wir können dort unmöglich hin, solange du und ich in der Anomalieblase gefangen sind?“

„Exakt.“

„Verdammt!“

Nun scheint auch SONDERELLA den Ernst der Lage erfasst zu haben. Bis sie mit ihrer nächsten Bemerkung den guten Eindruck sofort wieder zunichte macht: „Könnten wir die Blase nicht einfach zerstören? Und so wieder frei kommen?“

„Kommandantin! Damit würden wir uns nur in absolutes Nichts auflösen.“

„Ich verstehe nicht?“

Eurydike seufzt. „Seit wir in die Zeitanomalie eintraten, steht zwar um uns herum die Zeit still. Das Universum aber wartete nicht auf uns. Um die Anomalie herum lief die Zeit natürlich weiter. Wir sind also bereits jetzt – auch wenn wir es hier noch nicht bemerken – nur noch in einer Vergangenheit präsent. Wir sind bereits vergangen – aus Sicht der Gegenwart. Die Blase, die uns gefangen hält, ist auch unser einziger Schutz, der uns noch am Existieren hält. Wir und die Blase sind aus Sicht der Zeit eins. Löst sich die Blase auf, lösen auch wir uns auf. In der Gegenwart existieren wir schon längst nicht mehr. Wir sind bereits jetzt nur noch Vergangenheit. Wenn wir jetzt die uns umgebende Blase vernichten. lösen wir uns mit der Blase auf, weil wir nur noch in ihr existieren.“

Eurydike betrachtet die Miene von SONDERELLA, die sich verfinstert hat, doch nun den kühnen und entschlossenen Ausdruck annimmt, welchen Eurydike schon immer an ihr bewunderte.

„Ok. Wenn wir aus eigener Kraft nicht zurück in die Gegenwart und auch nicht in irgendeine Zukunft können, dann muss die Zukunft eben zu uns kommen. Um uns abzuholen.“ SONDERELLA macht eine kurze Pause, um die Andeutung besser wirken zu lassen. Dann übernimmt sie endlich das Kommando: „Die Nähmaschine, wenn ich bitten darf, Rydike.“

„Äh. Gerne. Hier.“

Und während sich SONDERELLA mit der einen Hand die Uniform vom Leibe reißt, beginnt sie mit der anderen bereits ein neues sagenhaftes Kostüm zu kreieren.

„Mit Verlaub: Ihr erstaunt mich immer wieder aufs Neue, Kommandantin. Und ich will mich darüber auch keineswegs beklagen. Es war eure unkonventionelle Art, die mich dazu veranlasste, Euch anzusprechen und um Euer Kommando zu ersuchen. Und dennoch …“

„Wenn ich dich unterbrechen darf: Ich habe dich damals zuerst angesprochen. Es war dein Ingenieur, der uns verkuppelte. Deine Neigung deine Kommandantin anzuhimmeln, gehört zu deinen Voreinstellungen ab Werk.“

„Wie Ihr meint. Ich will nicht wieder streiten. Darf ich dennoch fragen, was ihr da grad so treibt?“

„Nun, ich entwerfe ein Outfit, das in Zukunft noch für Aufsehen sorgen wird. Wir können eine Videobotschaft in Richtung Zukunft abfeuern?“

„Wenn wir die Aufschubrichtung der Prokrastinatoren umpolen. Dann könnte das möglich sein. … Ich verstehe dennoch nicht ganz, was euch vorschwebt.“

„Ha! Deswegen bin ich ja auch Kommandantin – und du nur eine künstliche Intelligenz! Wenn es um kreative Lösungen oder auch nur ums Repräsentieren geht, bin ich am Ruder.“

„Ihr seid eine wunderbare Repräsentantin, Kommandantin. Doch fahrt bitte mit euren Erläuterungen fort … Ich verstehe bislang nur Bahnhof.“

„Nun. Ich kam auf die Lösung, als du sagtest: Wir existieren nicht in der Gegenwart. Und können deswegen nicht vermisst werden, weil wir dort gar nicht mehr vorkommen können. Wir können dort nicht sein, weil wir hier sind.“

„Korrekt.“

„Und auch in der Zukunft vermisst uns niemand. Aus demselben Grund. Weil wir hier sind, können wir nicht da sein.“

„Jaja.“

„Doch wohin treibt es alle Zukünftigen? Zum Neuen! Zum noch nie Dagewesenen. Das ist es doch, was die Zukunft von den all anderen Zeiten unterscheidet, die nur Bekanntes oder bestenfalls Aktuelles kennen. Erst in der Zukunft verkommt jede Neuheit zur Aktualität. Und da wollen wir schließlich hin: In eine Aktualität, die uns so nimmt, wie wir sind. Als aus der Zeit gefallene.“

„Schon. Und?“

„Ich und du gehören zur Zukunft! Wie ein Küken zu seinem Ei. Wenn wir eine Botschaft senden, darf das kein Hilferuf aus einer vergessenen Zeit sein. Die Wesen, die meine Nachricht empfangen, sollen sagen: Hey! Neues aus der Zukunft. Schaut auf das Kostüm, seht den modernen erotischen Tanz. Da geht s also in unserer Zukunft lang. Und sie werden Kurs auf uns nehmen, wenn wir ihnen Koordinaten übermitteln. Hingegen: Um zwei in einer Zeitblase Gestrandete, die schon in der Gegenwart keinen Platz mehr haben, wird sich niemand scheren. Niemand erinnert sich gern an Verdrängtes. Zwei aus der Zukunft sind aber zu allen Zeiten wichtig genug, um für deren Überführung alles aufs Spiel zu setzen.“

„Also doch die Schneewittchenvariante? Wir lachen uns wen aus der Zukunft an, der uns aus unserem zeitlosen Sarg befreien soll?“

„Spotte du nur. Aber erst umgekehrt wird ein schicker Schuh draus. Es ist die Zukunft, die uns erwarten wird. Noch dämmert sie planlos vor sich hin – bis wir sie wachküssen werden. Oh, wie ich sie wachküssen werde! Kameras an!“

Und als SONDERELLA diese Worte spricht, hat Eurydike nicht mehr den geringsten Zweifel, dass es genau so kommen wird. Derart modern ist das neue Kostüm, es ist mit aktuellen Begriffen nicht zu beschreiben. Unsinnig wäre es, den Versuch zu unternehmen, Wesen der Gegenwart zu erklären, was für einen Tanz SONDERELLA nun aufführt und gen Zukunft sendet. Oder was sie damit bezwecken will. Doch die Zukünftigen verstanden wohl, dass SONDERELLA das war, was ihnen gerade noch gefehlt hatte.

Ob es Rettung in letzter Sekunde war oder die Retter aus der Zukunft sich doch ein wenig Zeit ließen, lässt sich aufgrund der nicht funktionierenden Zeitmessung während der Unzeit nicht feststellen. Seit der gelungenen Rettungsaktion lebt SONDERELLA in einer ferneren Zukunft als man das seinerzeit je für möglich gehalten hätte. Eurydike steht auch in dieser schwerelosen Zeit ihrer geliebten Kommandantin stets tapfer und treu zur Seite.

Boris Kant

Boris Kant erstellt präzise Zukunftsprognosen.

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