U 72

Von Vera Vorneweg

Menschen, Tunnel und das den Untergrund-Wartehallen
innewohnende künstliche Licht; von überall herabhängende triefend-
nasse Mäntel, Schutzhäute, Schirme.

Ein Übersetzungsbüro, ein Parkettstudio, Bodenbeläge zu
Sonderpreisen, Zahnbeläge, Praxen; Haxen, eine Gaststube ohne
Namen.

Die Arbeitsagentur, eine Schaltstelle, ein außerplanmäßiger Stopp,
peitschender Regen an den Scheiben, abperlende Tropfen, Schlieren,
Fenstermalereien auf Glas.

Litfaßsäulen mit Plakaten, überall Aufrufe zur Buchung von Urlaub,
SONNE! ENDLICH! und dazwischen immer wieder die Birken vor
ihren Häusern, auf ihren steinigen Böden.

Die Endhaltestellen und ihr Weg hinaus in die Stadt, von der
Menschenflut hinein in die Peripherie, hinein ins Nirgendwo; dahin,
wo die Wege noch nicht vorgezeichnet sind.

Schrebergärten, Wälder, Brombeerranken; „Träumefänger“, so der
Mann in schwarz gekleidet zu seinem Gegenüber murmelnd und beim
Hinausgehen an diesen gerichtet, anstatt eines Abschiedsgrußes: „ich
gehe immer geradeaus“.

*

Der Stadtrand, die Asphaltwüste; Sozialdienste, Backsteinbauten,
Baustellen, folge den Gruben, den Aushebungen, den Löchern; schau,
wie die Kräne alles in die Höhe ziehen.

Menschen in Neongelb, Männer an Nähmaschinen, sitzend hinter nach
unten schnellenden Nadeln, ein Lächeln hinein, hinaus in die
Gehsteigwüste, takatakatak, takatakatak.

Die Wiederherstellung von Oberflächenbekleidungsstücken, WIR
GARANTIEREN QUALITÄT, PÜNKTLICHKEIT UND
SCHNELLE BEARBEITUNG.

Der Mensch und sein Markt und das schöne Grün des Pak Choi,
danke, die Nächste bitte.

Der ums Kirchengemäuer fegende Wind und das große sich
aufbäumende Jesuskreuz. Ein wenig weiter die Straße hinunter ein
Geschäft mit zugezogenen neumodischen Jalousien, FORM UND
RAUM.

Ein Steingarten, ein Teich, Schilf. Eine künstlich angelegte Stadtoase
und das Jetzt-Auftauchen eines Entenpaars. Sich hin und
herbewegende Köpfe und sich öffnende und immer wieder
schließende Schnäbel, STADTTEICHE FÜR MEHR
LEBENSQUALITÄT.

Ein Hutgeschäft und das Knistern der roten und blauen Gore-Tex-
Regenjacken der Vorbeiziehenden. Die Zufalls-Begegnung einer Frau
mit einer Bekannten und der kurze Austausch über die Arbeit, die
Kinder, den geplanten Sommerurlaub.

Eine Bäckerei an der Endhaltestelle und das Lächeln der Verkäuferin
mit grellpink geschminkten Lippen. Dazu ein frischer, dunkelschwarz
aufgebrühter Filterkaffee in einer Tasse mit lila-gelben Blumen; „das
macht ein Euro neunzig“.

Der unbekannte Mann und sein Bekenntnis, „Disziplin und Ordnung,
darauf habe ich immer Wert gelegt; ich bin hart, aber herzlich“. Die
Scheidung, die Kinder, jetzt die Enkel. Die Leere des Raums; „es gab
eine Zeit, da habe ich nur mit dem Fernseher gesprochen“.

Die einfahrende Bahn an der Haltestelle und das Schild-Flimmerlicht
der Apotheke, rot auf weiß: Temperatur,
Zeit, Datum; Temperatur, Zeit, Datum; rhythmisiere dich.

Die auffallende Ordnung auf den Gehsteigen, links die Radfahrer,
rechts die Fußgänger, ganz rechts die Hecke, blickdicht, geschnitten,
die Blätter noch herbstbraun zerknittert.

*

Zurück in die Bahn, in die luftdichte Kapsel; zurück zum vanilligen
Schweiß der jungen Mädchen, GFA, GESELLSCHAFT ZUR
FÖRDERUNG DER ARBEITSAUFNAHME.

Verstädterung, Verknöcherung, Verwesung, die Rückkehr ins Zentrum,
zurück in den Menschenwald ohne Jahreszeiten, immergrün,
immerlaut.

Ein Kind, ein Schrei, ein Brillenmuttergesicht, den Körper ihrer
Tochter von oben nach unten mit ihren Augen abtastend, „Schatz,
hattest du heute Geige oder Flöte?“

Bodenverleggeschäfte und Frauen mit Patchworkröcken und bunten
Hüten, Sonnenbrillen; Lippenstift-Touristinnnen und schließlich,
letztendlich; der kleine, im Arm der Mutter ruhende Sohn.

(U72 von Heinrich-Heine-Allee nach Ratingen-Mitte * Endhaltestelle Ratingen-Mitte * von Ratingen-Mitte nach Heinrich-Heine-Allee, 18.2.2020)

Vera Vorneweg

Vera Vorneweg (*1985), freie Schriftstellerin, Studium der Sozialen Arbeit und Philosophie in Düsseldorf und Israel. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften sowie in öffentlichen Räumen. Ihr Debüt „Kein Wort zurück“ ist 2022 in der Edition Muschelkalk im Wartburg-Verlag erschienen. Diverse Ausstellungen und Lesungen, u.a. im Stadtmuseum Lüdenscheid, in Erfurt und Düsseldorf. Verschiedene Preise und Stipendien, z.B. Harald-Gerlach-Preis, Stipendiatin „Künstler*innen im ländlichen Raum“, 1:1 Mentoringprogramm mit Marion Poschmann, Künstlerstipendium NRW und Künstlerdorf Schöppingen.

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